Kolumne mit Peter Walsh

Orchesteraufnahmen in den Abbey Road Studios mit Engineer-Legende John Kurlander

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John Kurlander mit einem Studenten in der Regie des Abbey Road Studio One

Einen ersten Vorgeschmack auf das Aufnehmen von Streichern bekam ich 1979, als ich gerade als Assistent in den Utopia Studios angefangen hatte. Phil Wainman, Produzent und Utopia-Inhaber (und mein Boss!), arbeitete gerade mit Engineer Andy Jackson (Pink Floyd, Dave Gilmour) im Studio. Der Song I Don’t Like Mondays von den Boomtown Rats war ein Nummer-1-Hit in UK, und Komponist und Frontmann der Band, (Sir) Bob Geldof, wurde sehr bekannt. Ein paar Jahre später wurde er in Anerkennung für seine Bemühungen, Armut und Hungersnot in Äthiopien durch die Wohltätigkeitsorganisation Live Aid zu stoppen, die er zusammen mit Midge Ure (Ultravox) gründete, zum Ritter geschlagen.

Rund 20 Streicher waren zusammengezwängt auf engstem Raum, der nicht größer war als mein Wohnzimmer in London, und das ist wirklich nicht groß! Es waren eher »Rock’n’Roll-Streicher« als klassische. In dem Fall liegt der Fokus eher auf dem Instrument und nicht auf dem Raumklang.  Glücklicherweise besaßen die Utopia-Studios eine Neve-Konsole und eine große Anzahl an Neumann KM54 in ihrer Sammlung, damit Andy es besser klingen lassen konnte, als es wirklich war. Alle Instrumente wurden im Abstand von 50 cm abgenommen, und es gab keine Raummikrofone. Wie man bei dieser Methode erwarten würde, verlieh sie dem Sound eine raue Kante. Es ist ein trockener Front-Sound, bei dem jedes Detail hörbar ist. Bei dieser Art aufzunehmen braucht man wirklich gute Musiker. Du kannst nicht mogeln, wenn das Mikrofon wirklich direkt auf das F-Loch zeigt. Man kann einen ähnlichen Sound in vielen Aufnahmen aus dieser Ära hören, beispielsweise auf den Platten von David Bowie, T.Rex und ELO.

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Schließlich waren alle Stühle, Notenständer, Mikrofone und Kopfhörer positioniert, es gab kaum Platz, um sich zu bewegen, geschweige denn einen Bogen zu schwingen. Eines der Mikrofone musste nach der Hälfte der Session nachjustiert werden. Ich erinnere mich, dass ich vorsichtig auf Zehenspitzen durch den Kabeldschungel gegangen bin, um dranzukommen, und ich musste dabei darauf achten, nicht auf eines der teuren Instrumente zu latschen. Eine Stradivari zu zerstören, die mehr als ein Haus wert ist, ist wahrscheinlich der schnellste Weg, um sich aus dem Musikgeschäft zu verabschieden … und ich versuchte verzweifelt, drin zu bleiben!

Eine andere Stimmung – Abbey Road Studios 1983

Meine erste Erfahrung mit einer großen Orchesteraufnahmemachte ich vier Jahre später, 1983! Diesmal war es in den  weltberühmten Abbey Road Studios, wo ich gerade Scott Walkers Album Climate Of Hunter für Virgin Records coproduzierte. Bei dieser Gelegenheit hatte ich das Glück, dass John Kurlander als Engineer dabei war. Das Pult war derselbe Nachbau des TG12345, mit dem er bereits mit den Beatles gearbeitet hatte. John war schon damals eine Legende, da er bereits mit den »Fab Four« sowie mit Elton John und Toto gearbeitete hatte. Er war bereits als Engineer für orchestrale Filmmusik und klassische Aufnahmen sehr gefragt.

Abbey Road Studio One ist im Vergleich zu Utopia ein komplett anderer Raum, wo es ganz andere Regeln dafür gibt, ein großes Orchester aufzunehmen. Es geht mehr darum, Abbey Road aufzunehmen als die Musiker, die darinsitzen. Die Stimmung des Raumes ist einzigartig, alles klingt zum Heulen schön. Sie kann einen erwachsenen Mann zum Weinen bringen … und das tat sie auch schon. Mehr dazu später. Für Climate Of Hunter hatten wir ein großes Streichorchester mit 40 Musikern. Die Absicht war mehr, reiche, warme Texturen und breite Landschaften zu kreieren als alles andere. Dafür brauchten wir einen großen Raum, der das Ganze, was gespielt wird, aufwertet und verstärkt.

Orchester Recording Workshop 2019 – Abbey Road Institute

Wie bekommst du also das Beste aus einem so schönen Aufnahmeraum? Wie kann man den Charakter des Raumes am besten einfangen und für die Außenwelt so reproduzieren, dass sie es auch würdigt? Diese und viele weitere Fragen wurden in einem Orchester-Recording-Workshop am Abbey Road Institute in Berlin und in Frankfurt behandelt, und vor Kurzem auch im Abbey Road Studio One in London.

Es war besonders aufregend für mich zu erfahren, dass John Kurlander von seiner Wahlheimatstadt Los Angeles herübergeflogen kommt, um den Workshop zu leiten, bei dem Abbey-Road-Engineer Stefano Civetta assistierte. Und ich habe mich sehr darüber gefreut, dass ich gefragt wurde, ein Orchester zu organisieren, das wir als »Versuchskaninchen « für diesen Tag nutzen können. Ein Orchester zu finden ist einfach, aber eines, das bereit ist, seine Dienste kostenlos anzubieten, nicht!

Zum Glück ist meine Freundin Mitglied des London Euphonia Orchestra, einer wunderbaren Gruppe von begeisterten, meistens Amateurmusikern, unter der Leitung des italienischen Dirigenten Dario Peluso. Sie freuten sich, ihre Zeit und ihr Talent für den Workshop zur Verfügung zu stellen, wofür wir alle sehr dankbar waren. Es kommt nicht oft vor, dass sie die Möglichkeit haben, im selben Raum zu performen, in dem Sergeant Pepper’s aufgenommen wurde und eine Legende wie John Kurlander am Steuer sitzt! Es war ihnen eine Ehre, dieses Angebot anzunehmen.

John ist, seit ich vor 36 Jahren mit ihm zusammengearbeitet habe, ein sehr beschäftigter Mann. In dieser Zeit nahm er die größten Orchester der Welt auf, darunter die Philharmoniker aus London, Berlin, Wien und St. Petersburg sowie die Orchester der Mailänder Scala und der Boston Symphony, um nur ein paar zu nennen. Er hat drei Grammys bekommen, und Soundtracks wie die »Lord Of The Rings«-Trilogie zieren seinen Lebenslauf.

Die wichtigsten Techniken für Orchesteraufnahmen weltweit wurden entwickelt, als die Aufnahme selbst noch in den Kinderschuhen steckte – also lange bevor ich meine Karriere begann! Die heutigen Aufnahmetechniker verwenden die gleiche Art von Mikrofonen, in den gleichen Positionen wie ihre Vorgänger vor einem dreiviertel Jahrhundert. Das Blumlein-Stereosystem, entwickelt in den frühen 1930er-Jahren von Alan Blumlein während seiner Arbeit im EMI-Forschungslabor, verwendet ein einzelnes Paar bidirektionaler Mikrofone, die hoch über dem Dirigenten positioniert sind. Und der in den 1950er Jahren eingeführte »Decca Tree« ist meiner Meinung nach immer noch der heilige Gral der Mikrofon-Setups. Es besteht aus drei Kugelmikrofonen, die in einer Dreieckskonfiguration in ca. 3 bis 4 Meter Höhe über dem Boden und auch direkt über und leicht vor dem Dirigenten angeordnet sind. Das dritte Setup, das häufig bei der Aufnahme von Surround-Sound verwendet wird, besteht normalerweise aus zwei »Outriggern« mit Kugelcharakteristik am äußersten Rand des Orchesters.

Für den Workshop hat John all diese Methoden gemischt, damit die Studenten sie vergleichen konnten. Der Decca Tree war der Favorit des Tages, aber sein Erfolg ist sehr abhängig von den Dimensionen und Eigenschaften des Aufnahmeraumes sowie natürlich der internen Balance des Orchesters.

»In den 50er Jahren mussten Engineers, die für Decca arbeiteten, jeden Ort, den der Produzent für seine Recording-Session vorgeschlagen hat, erst begutachten, und die Produzenten konnten nur dann fortfahren, wenn die Engineers den Raum für den Decca Tree passend fanden«, erklärte John. »Aber heutzutage benutzen die Leute ihn in Räumen, die nicht die Höhe, nicht die richtige Art von Akustik und auch nicht die Reflexionen haben, um mit dem System arbeiten zu können.«

Er fuhr fort, dass die »go-to« Kugelmikrofone Neumann M50, die am Tree verwendet werden, eigentlich direktionaler sind, als man denkt. »Sie sind mehr ›rundes Weißbrot‹ in ihrer Richtcharakteristik«, sagte er mir später. »Alles über 3 k ist etwas mehr Niere, während das untere Ende omnipräsent bleibt«. Ich habe mich oft gefragt, warum die Stereoabbildung des Trees so definiert ist, und nun weiß ich es!

Wir hörten uns auch das »Curtain-Array« an – eine Reihe von vier Kugelmikrofonen (B&K), die (vertikal) über der Vorderseite des Orchesters platziert sind. John sah diese Methode zum ersten Mal bei der BBC in einer Live-Anwendung und sagte mir, dass dies jetzt in den USA sehr beliebt sei und oft in der modernen Filmmusik- und in Gaming-Soundtracks verwendet wird. Ein gematchtes Paar Neumann KM 86 mit Nierencharakteristik nahm die Holzbläser ab, und auch die Neumann U87, ebenfalls Nierencharakteristik, wurden als Nahmikrofone (auch »Spot-Mikrofone« genannt) eingesetzt, um den verschiedenen Sektionen des Orchesters bei Bedarf mehr Definition zu verleihen (und gelegentlich zu reduzieren, wenn erforderlich …).

Für die Solisten verwendete John eines seiner Lieblings-Bändchenmikrofone – das RCA R44. Zu Hause bevorzugt er das modernere AEA 44, eine Nachbildung des originalen RCA-Mikrofons, das ein geringeres Grundrauschen hat, und bei dem man einfacher ein gematchtes Paar findet. Er besitzt tatsächlich zwei dieser Mikrofone – natürlich mit den Seriennummern 001 und 002.

Reise nach Jerusalem

Die Auswahl und Platzierung der Mikrofone ist natürlich eines der wichtigsten Dinge, die zu meistern sind. Es ist jedoch nicht nur die technische Seite, die eine gute Orchester-Aufzeichnung ausmacht. Es gibt auch eine etwas spezielle Seite, die berücksichtigt werden muss. Das Ändern der Sitzanordnung und der Nähe der Musiker zueinander kann sich erheblich auf die innere Balance des Orchesters, die Intonation und das allgemeine Spiel auswirken, was in einer besseren Aufzeichnung resultiert.

Der Engineer muss ein Gespür dafür entwickeln, einen gewissen physischen Raum zwischen den Sektionen des Orchesters zu lassen, um jede Instrumentengruppe für die Aufnahme so weit wie möglich zu isolieren (Streicher, Holzbläser, Blechbläser, Percussion etc.). Vor allem aber in einem größeren Raum, und noch mehr bei einem Orchester ohne große Aufnahmeerfahrung kann dies zu Problemen führen. Es kann für die Musiker schwieriger sein, sich in diesem Setup zu hören und Musik so gemeinsam zu machen, wie sie es gewohnt sind.

Nach ein paar Minuten »Kopfkratzen« positionierte John die Bläser neu, bewegte die Waldhörner vom Podium auf den Studioboden und setzte das gesamte Orchester enger zusammen. Es war offensichtlich, dass sich alle wohler fühlten, wenn sie näher beieinander spielten, und das, zusammen mit weicheren Bläsern, führte zu einem besseren Mix und einer insgesamt verbesserten Stimmung.

Freudentränen

Dies und mehr zeugte von Johns Erfahrung und Fachwissen auf diesem Gebiet, und es wurde gezeigt, wie Studiopsychologie und -physik im Studio positiv zusammenarbeiten können. Unabhängig von der Größe des Raums und der Anzahl der Musiker gibt es immer eine Möglichkeit, die Performence zu optimieren und damit die bestmögliche Aufnahme zu kreieren. »Wenn es im Aufnahmeraum gut klingt, ist es bedeutend einfacher, es auf der Aufnahme großartig klingen zu lassen«, war einer der abschließenden Ratschläge von John. Es war klar, dass dieser magische Raum aus einem bestimmten Grund weltberühmt ist. Als das Orchester mit dem ersten Stück fertig war, sah ich Tränen in den Augen von ARI-Frankfurt-Manager Ulli Schiller. Ich hoffe, es waren Freudentränen!

www.peterwalshmusic.com

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