Punk aus der Beatbox

Beats selber machen – Minimal Wave mit Matthias Schuster

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Diese ersten Gehversuche der elektronischen Clubmusik werden auf die späten 70er-Jahre datiert und zeichnen sich durch reichlich Punk-Attitüde aus. Sie haben bis heute ihren Fußabdruck im musikalischen Geschehen hinterlassen. Minimal Wave und dessen kommerzieller ausgerichtete Synthpop-Abkömmlinge stehen nach wie vor hoch im Kurs und beeinflussen aktuelle Mainstream-Produktionen von Hurts bis Daft Punk. Wir werfen einen Blick auf die musikalische Essenz von Minimal/New/Cold-Wave & Co.

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Beats sind die Grundpfeiler moderner Popmusik. Der Beat ist Motor, Rückgrat und Energiequelle eines Songs, über ihn definieren sich zudem meist die Genrezugehörigkeiten. Er nimmt als solches einen zentralen Punkt und maximale Aufmerksamkeit im weiten Feld der Musikentstehung ein: Stimmt der Beat, ist ein großer Teil der Produktion in trockenen Tüchern. In unserer Workshop-Reihe möchten wir dir wichtige Grundlagen, verschiedene − auch sehr konträre − Philosophien und nicht zuletzt praktische Tipps und Tricks vermitteln − immer aus erster Hand von echten Beat-Profis.

Ratternde Beatboxen, Mini-Sequenzen aus dem Analog-Synthesizer, dazu Vocals, die sich thematisch zwischen sinnfreier Komik und selbstzerstörerischem Weltschmerz abwechseln − etwa so definiert sich ein Genre, welches in seiner Reinform stets dem Underground zugehörig blieb, dem Mainstream jedoch über drei Jahrzehnte immer wieder als kreative Quelle diente.

Der Ursprung des Minimal Wave ist untrennbar mit dem Punk verbunden − mit dem Unterschied, dass die genialen Dilettanten hier anstelle von Gitarren und Live-Drums elektronisches Instrumentarium für sich entdeckten. Neben den oftmals avantgardistischen Gesamtkonzepten von Industrial-Musikern wie Cabaret Voltaire oder Throbbing Gristle entstand schnell ein eher Poporientiertes Feld mit Bands um DAF, Human League oder Palais Schaumburg, die wenig später wiederum der Neuen Deutschen Welle Geburtshilfe leisteten. Die stilbildenden Merkmale, etwa der kreative Einsatz von sehr limitiertem Equipment, waren jedoch weit – gehend dieselben. Der mittlerweile als Oberbegriff für diverse Subgenres etablierte Begriff Minimal Wave entstand erst vor gut zehn Jahren durch ein gleichnamiges Plattenlabel, welches mit zahlreichen Re-Releases von klassischen Tracks auf sich aufmerksam machte.

Modern Retro 

Wie verleiht man seinem aktuellen, mit modernen Tools erstellten Track das Flair einer 30 Jahre alten Kellerproduktion − inklusive authentisch-punkigem Anarcho-Touch? Absoluter Experte und lebende Legende des Minimal Wave ist der Hamburger Matthias Schuster, den wir für unseren aktuellen Beat-Programming-Workshop in seinem Studio besuchen. Matthias ist als Produzent von Andreas Doraus 1981er-Kulthit Fred vom Jupiter seit den ersten Tagen von NDW mit minimalelektronischem Sound dabei − kein Wunder, dass die Filmmusik der kürzlich im Kino sehr erfolgreichen Mockumentary Fraktus auf sein Konto geht.

Matthias erläutert: »Wie bei kaum einem anderen Genre sind Sound und Stilmittel des Minimal Wave direkt von den Eigenschaften des verwendeten Equipments geprägt. Beatboxen, simple Analog-Synthesizer und Sequenzer sowie Tape-Recorder waren meist das einzig verfügbare Equipment − und nach diesen Geräten muss der Sound auch heute klingen. Mangels Programmierbarkeit der Beatboxen war die Rhythmusgestaltung zwangsläufig durch die vorhandenen Presets vorgegeben. Als einzig verwendbare Rhythmen boten sie diverse Rock- und Latin-Beats − mit Walzer-Presets war ja nicht viel anzufangen …«

Somit ist der typische Minimal Wave-Beat im Rock verwurzelt − im einfachsten Fall mit der Kick auf den Zählzeiten »1« und »3« bzw. »1«, »2«, »3« und »4« sowie der betonten Snare auf »2« und »4«. Ist mehr »Geklacker« gefragt, bietet sich als Alternative ein Bossa-Nova-Preset an − ebenfalls als Bestandteil zahlreicher Wave- und Synthpop-Klassiker verewigt.

Entsprechend der damals geltenden Rock-Klangästhetik ist die Kick dieser Beatboxen gegenüber der Snare verhältnismäßig leise. Ein solches Mixverhältnis sollte bei der Gestaltung des Beats berücksichtigt werden. Ultrafette Techno-Kicks sind hier fehl am Platze. Ganz im Zeichen des Punk war Minimalismus gefragt. Sofern die verwendete Maschine dies zuließ, wurden Instrumente deshalb meist einfach weggelassen. So ist die Roland CR-78 ohne Hi-Hat ein typisches Stilmittel von John Foxx’ Albumklassiker Metamatic.


Analoge Drumboxen, simple Synthesizer und Stepsequenzer prägen den Sound des Minimal Wave. Matthias Schuster erstellt hier einen typischen Beat, der sich problemlos mit aktuellen Hardware- oder SoftwareInstrumenten nachempfinden lässt


Beatbox-Tuning 

Matthias: »Klanglich gaben die Beatboxen meist nicht allzu viel Interessantes her. Wir haben uns deshalb mit diversen Gitarren-Effekten beholfen, um den Sound aggressiver und spannender zu gestalten. Reichlich Verzerrer und scheppernder Federhall standen hoch im Kurs. CR-78 und ein Electro Harmonix Big Muff waren lange Zeit mein Markenzeichen.«

Neben den Preset-Drummies liefern simple Sequenzer, oftmals mit nur acht Steps, das authentische Minimal-Wave-Feeling. Je einfacher und monotoner, desto besser. Oktavbässe stehen hoch im Kurs. Als rhythmische Finesse funktioniert eine triolische Sequenz über einem geraden 4/4-Beat sehr gut. Bezüglich Tempo liegt man zwischen 124 und 150 BPM richtig.

Wer in den späten 70ern Beats selbst programmieren wollte, musste sich mit Stepsequenzer und Drum-Sounds aus dem Synthesizer behelfen. Zahlreiche Klassiker von Human League (z. B. Being Boiled − Roland System 100), Liaison Dangereuse (Los ninos del parque − Korg MS-Serie) sind großartige Beispiele für diese Art der Beat-Programmierung. Los ninos bezieht seine einfache, aber reizvolle Polyrhythmik aus einem 4/4-Drum-Pattern und einer Bassline im 6/4-Takt − Letztere fast zwangsläufig durch die Verwendung von Korgs 12-Step-Sequenzer SQ-10 vorgegeben.

Plugged in

Wer sich heute an der Programmierung von Minimal-Wave-Beats versuchen möchte, wird selten in den Genuss der Originalgeräte kommen. Glücklicherweise bietet der aktuelle Instrumentenmarkt eine reiche Auswahl an modernen, echt-analogen Mono-Synthesizern, Modularsystemen und Stepsequenzern, die sich ganz im Sinne der Klassiker nutzen lassen und authentischen Sound liefern. Zudem finden sich zahllose Clones in Plug-in-Form. Matthias empfiehlt hier unter anderem den Audiorealism ABL Pro als TB-303-ähnliches Konzept sowie die großartige Beatbox-App namens Funkbox von Synthetic Bits. Effekte mit passendem Old-school-Sound liefern Bodentreter-Emulationen wie etwa Native Instruments Guitar Rig oder Sugarbytes Turnado.

Auf diesen beiden Seite wollen wir uns die Entstehung eines typischen Minimal-Wave-Beats mithilfe von aktueller Hard- und Software genauer anschauen.


Matthias Schuster: Von Fred vom Jupiter bis Fraktus 

Matthias Schuster ist eine echte Ikone der Hamburger Studio- und Musikerszene. In der Hafenstadt existiert kaum ein Punk-, NDW- oder New-Wave-Projekt, bei dem er nicht auf die eine oder andere Weise involviert gewesen wäre. In seinem Studio wurden seit 1980 über 150 Bands und Projekte produziert. Das Portfolio reicht von Andreas Dorau über Kosmonautentraum, Brosch bis hin zu zahlreichen Filmmusiken, deren bekannteste sicher die 2012 höchst erfolgreiche Mockumentary Fraktus mit Rocko Schamoni, Heinz Strunk u.v.m. sein dürfte. Nebenbei blickt Matthias auf über 25 Veröffentlichungen seiner eigenen Projekte zurück, darunter Geisterfahrer, Bal Pare, Das Institut und Im Namen des Volkes, an dessen nächstem Album er gerade arbeitet.

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