Musikkonsum über Kopfhörer

Kunstkopf-Aufnahmen: Sensationelles Klangerlebnis in 3D

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Ob in der Stadt, in der Bahn oder im Bus: Der Musikkonsum über Kopfhörer scheint allgegenwärtig. Auch Statistiken belegen, dass mittlerweile 58% der Menschen ihre Musik vorwiegend über Kopfhörer genießen — Tendenz steigend. Warum also nicht seine Produktion an diese Hörgewohnheit anpassen oder gar um eine Dimension erweitern?

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(Bild: Thomas Schermer, Jörg Sunderkötter, Marc Bohn)

Kunstkopfaufnahmen geben dem Hörer ein 3D-Erlebnis auf die Ohren — ein interessanter Weg, um Möglichkeiten des Kopfhörers auszunutzen und ein echtes musikalisches Klangerlebnis zu schaffen …

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Bisher war es so, dass man beim Musikhören mit dem Kopfhörer alleine ist, in seine eigene Welt hinabtaucht und seine Gedanken in alle Richtungen fließen lässt. Seit dem städtischen Trend der Silent Concerts und Partys, bei dem alle Besucher einen Kopfhörer bekommen und man irgendwo gemütlich im Park der Musik lauscht, hat sich selbst das geändert. Musikhören mit Kopfhörern ist gemeinschaftsfähig. Allerdings gibt es wenig mediale Inhalte, die diesem Trend nachgehen. Also eine Marktlücke?

Es gibt viele Entwicklungen zu Virtual Sounds und Binauralität. Die finden ihre Anwendung vor allem in Computerspielen und im Filmton. Aber es gibt wenig Musik, die auf diese Art des Musikkonsumierens ausgelegt ist.

Obwohl es immer wieder mal auch überraschende Soundeffekte gibt, die sich aufgrund ihres plastischen Klangbilds vom üblichen Mix abheben. Man nimmt plötzlich Geräuschoder Sprach-Samples wahr, die irgendwie hinter einem stattzufinden scheinen, sodass man sich spontan umdreht. Meistens handelt es sich dabei um Kunstkopfaufnahmen.

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Das Klangerlebnis Kunstkopf

Hörspiele oder Audiowalks und akustische Spaziergänge gehören zu den gängigen Produktionsformen mit einem Kunstkopf. Musikproduktionen sind in dieser Form eher ungewöhnlich. In der Popmusik wäre es seltsam, wenn das Drum-Set oder die Gitarren von hinten zu hören sind, daran ist unser Gehör einfach nicht gewöhnt. Die Musik wird in der Regel so gemischt, wie man die Band vor sich sieht − eben wie bei einem Konzert. Bei Musik, die für einen Raum konzipiert ist und von überall kommt, funktioniert binaural natürlich sehr gut. Mit einem Kunstkopf lässt sich daher viel experimentieren, und der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

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Das Ohr des Kunstkopfes ist ein gemittelter Abdruck des menschlichen DurchschnittsOhrs. (Bild: Thomas Schermer, Jörg Sunderkötter, Marc Bohn)

Klangorientierung

»Binauralität« lautet das Stichwort! Binaural setzt sich aus zwei lateinischen Wörtern zusammen. Einmal »bi« für zwei, und einmal »auris« für Ohr oder Gehör. Und weil wir mit eben mit zwei Ohren hören, können wir Richtung, Entfernung und den Raum, in dem wir uns bewegen, akustisch wahrnehmen und uns orientieren, wie wir es gewohnt sind.

Der Kopfhörer ist das einzige Wiedergabemedium, bei dem man im Mix ein Signal konkret einem Ohr zuordnen kann, während man bei der Wiedergabe über Lautsprecher auch mit dem rechten Ohr das hört, was aus dem linken Lautsprecher kommt und umgekehrt. Diesen Effekt nennt man »Cross-Talk«. Beim Kopfhörer existiert dieses Phänomen nicht, und deshalb funktioniert die Klangorientierung mit ihm auch so gut.

Genau wie unser Ohr hören die beiden Kugelmikrofone, die in den Ohren eines Kunstkopfs integriert sind, völlig ungerichtet in den Raum hinein. Diese beiden Mikrofone liefern uns je ein Stereosignal für rechts und links. Der 3D- und der Richtungseindruck, bzw. die Lokalisierung der Geräusche kommt nur zustande, weil am Kunstkopf alle fürs Hören wichtigen anatomischen Eigenschaften des Menschen nachgebildet sind. Es gibt einen Ohrabstand, einen schallharten Trennkörper zwischen den Ohren und eben das Ohr mit seiner Form der Ohrmuschel selbst. Sie ist dafür verantwortlich, dass das richtungsabhängige Hören funktioniert.

Je nach Einfallsrichtung wird der Schall eingefärbt. Kommt der Schall von hinten, bekommt er eine andere Frequenzkurve, als wenn er direkt von vorne, von der Seite oder von oben kommt. Dadurch können wir überhaupt Töne und Geräusche einer Richtung zuordnen.

Das Ohr des KU100 von Neumann ist beispielsweise ein gemitteltes Ohr von ca. 10.000 Probanden. Damit hat Neumann ein Durchschnittsohr gestaltet, das für jeden Hörer gut funktioniert. Je näher deine Ohrform der des Kunstkopfs entspricht, umso besser funktioniert bei dir die Lokalisierung und Ortung der Audiosignale in der Aufnahme.

Das einzige Problem ist die fehlende visuelle Verknüpfung. Dadurch wird die Orientierung stark beeinträchtig. Wenn wir nicht sehen, was es gerade hören, dann entsteht für uns oft der Eindruck, das Signal komme von hinten. Auch wenn die Klangquelle während der Aufnahme vor dem Kunstkopf stand. Virtuelle Klangquellen von oben oder unten lassen sich nur schwer nachvollziehen. Bei Computerspielen und Filmen aber, wo eine visuelle Verknüpfung stattfindet, funktioniert die Richtungswahrnehmung hingegen sehr gut.

Manchmal als unangenehm empfunden wird die »Im-Kopf-Lokalisation«, die ein generelles Problem bei Kopfhörern darstellen. Sie tritt auf, wenn man ein Monosignal über Kopfhörer hört und es in der Mitte seines Kopfs ortet. Damit könnte man beispielsweise bei Hörspielen die Stimme aus dem Off mit einem Monomikrofon aufnehmen. Über Kopfhörer würde man es dann in der Mitte des Kopfs hören. Auch Schallquellen, die an einem vorbeigehen, sind sehr creapy, weil sie eben mitten durch den Kopf zu wandern scheinen. Ein solcher Höreindruck kann ein toller Effekt sein, aber auch als unangenehm nah, zu intim wahrgenommen werden.

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Die Membran des ungerichteten Kugelmikrofons sitzt im Gehörgang des Kunstkopfs. (Bild: Thomas Schermer, Jörg Sunderkötter, Marc Bohn)

Recordings mit dem Kunstkopf

Den Kunstkopf positioniert man so, wie man sich auch als Hörer vor der Schallquelle aufstellen würde. Niemand würde sich mit seinem Kopf beispielsweise vor die Gitarrenbox legen − so wie Pop-Musik produziert wird. Der Kunstkopf wird also als Stellvertreter eines Hörers gesehen und auch genauso aufgestellt. Man kann dem Hörer mit einer solchen Aufnahme nicht so leicht etwas vortäuschen wie bei einer normalen Stereoproduktion.

Möchte man Nähe simulieren, dann reicht es nicht, einfach nur die Lautstärke zu erhöhen. Wird beispielsweise der Gitarren-Amp während einer Aufnahme lauter gedreht, dann empfindet man das auch so: Der Amp bleibt da stehen und wird lauter. Um Nähe zu erzeugen, muss man auch die Distanz zwischen Schallquelle und Kunstkopf verringern. Bei bewegten Schallquellen, die von links nach rechts nahe an deinem Ohr vorbeigehen sollen, muss auch die Klangquelle bewegt werden. So erzeugt man bei Aufnahmen mit einem Kunstkopf ein sehr realistisches Gefühl für Nähe und Distanz.

Ein so realistischer Klangeindruck lässt sich mit üblichen Methoden des Stereomixes kaum simulieren − vor allem bewegte Schallquellen. Für diesen Zweck braucht man eine spezielle Mix-Software wie den Spatial Audio Designer von New Audio Technology − ebenfalls ein höchst interessantes Experimentierfeld.

Am besten funktioniert die Aufnahme in großen und halligen Räumen. In kleinen und sehr trockenen Räumen fehlt das Diffusfeld, und zur Orientierung bleiben nur die Parameter Richtung und Entfernung zurück. In einem großen Raum dagegen kommt durch den Schall aus dem Diffusfeld der Raumklang hinzu und erzeugt das Gefühl, man stehe wirklich in einem großen Raum, wie beispielsweise einer Kirche oder Halle.

Mixing der Kunstkopfsignale

Bei Kunstkopfaufnahmen gibt es wenig bis gar keine Post-Production. Durch die Bearbeitung der Signale mit einem EQ oder einem Panning würde man das Richtungsempfinden der Kunstkopfaufnahme zerstören. »Automationen« müssen ebenfalls während des Recordings stattfinden, indem der Kunstkopf selbst oder die Schallquelle in die gewünschte Richtung bewegt werden. Soll die Gitarre im Mix links sein, muss sie auch links vor dem Kunstkopf stehen. Sollen Vocals von hinten nach vorne laufen, muss entweder der Sänger während der Aufnahme am Kunstkopf von hinten nach vorne vorbeilaufen oder eben der Kunstkopf rückwärts am Sänger vorbeibewegt werden. Alles steht und fällt also mit der Qualität und der Kreativität der Aufnahme. Hier zählen die Momentaufnahmen, die wirklich so stattgefunden haben.

Die Möglichkeit, die Aufnahme nachzubearbeiten, besteht zwar, aber das geht immer auf Kosten eines realistischen Hörerlebnisses. Man kann natürlich filtern, komprimieren oder auch die Stereobasisbreite verändern, aber mit jedem Schritt, der vielleicht klangliche Fehler korrigiert, verringert man den realistischen Raum- und Richtungseindruck der Aufnahme.

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Kopfmassage mal anders

Ein Trend, der sich gerade im Netz entwickelt, sind die sogenannten ASMR-Videos. ASMR steht für »autonomous sensory meridian response«. Das sind binaurale Aufnahmen, die beim Hören mit dem Kopfhörer Kopfkribbeln verursachen und als »Massage der Sinne« beschrieben werden. Unser Gehirn reagiert auf bestimmte Geräusche und Klänge wie beispielsweise eine flüsternde Stimme mit völliger Entspannung. Manche empfinden das Zusammenknüllen einer Plastiktüte, das Kämmen mit einer Haarbürste oder das Tippeln mit den Fingernägeln als sehr angenehm.

Bei den Recordings zu diesen binauralen Klangvideos werden zwei Kugelmikrofone aufgebaut, nach links und rechts voneinander weg gerichtet, und in der Mitte wird die Kamera positioniert. Beim Anschauen des Videos, hat der Zuschauer so das Gefühl, als sei er der Mittelpunkt des Videos, und alles, was über der Kamera passiert, passiere auf seinem eigenen Kopf. Der Mikrofonabstand entspricht dabei mit 17 bis 22 cm in etwa dem unserer Ohren, wodurch das menschliche Hören im Ansatz simuliert wird. So lassen sich binaurale Klänge erzeugen, die visuell gekoppelt sind. Hierzu findet ihr auch Videos auf unserer Website.

Binauraler Konsum

Jeder, der einmal eine originale Kunstkopfproduktion hören möchte, kann dies auf unserer Website tun. Dort gibt es den »Virtual Barber Shop«, einen klanglichen Friseurbesuch − einfach mal die Augen schließen, mitten drin sein und wahrnehmen, was um einen herum so passiert. Kunstkopfaufnahmen können einen an den Ort der Aufnahme zurückversetzen, egal wo man sich gerade während des Musikhörens aufhält − ob in der Bahn, auf der Couch oder auf dem Matterhorn.

Bei der Aufnahme mit dem Kunstkopf wird auch die Ortung der Schallquellen mit aufgezeichnet. So kommt es, dass man sich während der Wiedergabe plötzlich umdreht und guckt, was da hinter einem gerade vor sich geht. Man kann hören, wie weit etwas entfernt ist, und man hat das Gefühl, man könnte sogar danach greifen oder einfach hingehen, was bei einer Stereomischung niemals möglich wäre.

Ich persönlich finde es schade, dass es wenige Musikproduktionen in diesem Format gibt. Deshalb freue ich mich schon jetzt auf das Musikprojekt des Kölner Produzenten und Tontechnikers Patrick Leuchter. Was er macht, ist zwar relativ aufwendig, aber eben auch hoch spannend: Leuchter besucht mit einem mehrkanaligen Wiedergabesystem, bestehend aus sieben Focal CMS-Monitoren, unterschiedliche Locations mit spezieller Akustik. Dort wird seine auf Surround gemischte Produktion aufgeführt und über den Kunstkopf aufgezeichnet, um die Lokalisierung der Klänge plus echter Akustik als Kunstkopfstereofonie zu erhalten.

Seven Spaces

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(Bild: Thomas Schermer, Jörg Sunderkötter, Marc Bohn)

Der Kölner Sound-Designer und Tonstudiobetreiber Patrick Leuchter arbeitet aktuell an einer spannenden Musikproduktion, die im Frühjahr 2016 unter dem Titel Seven Spaces erscheinen wird. Zu hören gibt es sieben Titel, die an besonderen Kölner Orten mit einem Kunstkopfmikrofon aufgezeichnet wurden. Den Hörer erwartet eine intensive Klangreise, die der Akustik und Architektur der gewählten Räume nachspürt. Die binaurale CD ist für die Wiedergabe mit Kopfhörern ausgelegt und bietet dreidimensionalen Sound im Stereoformat.

Spatial Audio Designer

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(Bild: Thomas Schermer, Jörg Sunderkötter, Marc Bohn)

Ein Kunstkopfmikrofon wie das Neumann KU100 kann sich nicht jeder leisten — Kostenpunkt: ca. 7.500,— Euro. Aber es gibt auch eine Softwarelösung für einen virtuellen 3D-Mix. Der deutsche Hersteller New Audio Technology brachte vor etwa drei Jahren den Spatial Audio Designer (kurz: SAD) heraus, der animiertes Kopfkino per Mausklick möglich macht. SAD integriert sich als VST in jede DAW und arbeitet neben deren Mixumgebung. So kann man auch bestimmte Anteile einer Produktion in den 3D-Mix einbeziehen.

Gerade wer vollständig DAW-basiert arbeitet, dürfte von den Möglichkeiten des SAD begeistert sein — auf jeden Fall gelingen damit Kopfhörermixe, die aufregend plastisch klingen können. Der dreidimensionale Klangeindruck entsteht übrigens auf recht ähnliche Weise wie Patrick Leuchters Projekt, nur kommen anstelle echter Boxen und Kunstkopf spezielle Impulsantworten zum Einsatz, die man mittels »Virtualize Speaker« und »Headphone Surround 3D« in ihrer Wirkungsweise einstellt.

Links

https://www.soundandrecording.de/sevenspaces

https://www.soundandrecording.de/kunstkopf

Kommentare zu diesem Artikel

  1. es gab vor ca. 30 Jahren zum Jubiläum des Berliner Funkmuseums eine LP mit Kunstkopfaufnahmen zur Berliner Welt-Geschichte ..ist mir verloren gegangen.. wie komme ich an diese historische Aufnahmen

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  1. Ein Besuch in der Psychiatrie › SOUND & RECORDING

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