Mikrofontechnik mit Tradition

90 Jahre Microtech Gefell

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(Bild: Dr. Andreas Hau)

Beim Fußball hakte es in letzter Zeit ein wenig, aber in Sachen Mikrofone bleibt Deutschland unangefochtener Weltmeister. Kein anderes Land hat so viele alt eingesessene Mikrofonhersteller von Weltruf. Eines dieser Traditionsunternehmen ist die Microtech Gefell GmbH, die im September ihr 90-jähriges Bestehen feierte.

Es mag merkwürdig erscheinen, dass ein Unternehmen mit dem Wort »Microtech« im Namen schon 90 Jahre alt sein soll. Tatsächlich ist es genaugenommen nicht die Microtech Gefell GmbH, sondern der Betrieb der Muttergesellschaft, der Georg Neumann KG, der dieser Tage sein 90-jähriges Bestehen feiert. Nicht zu verwechseln mit der Georg Neumann GmbH in Berlin, über die wir in der letzten Ausgabe berichteten. Denn obgleich sich beide Firmen auf denselben Gründer berufen, sind es zwei voneinander unabhängige Unternehmen. Das klingt kompliziert und hat − man ahnt es − mit der deutschen Teilung zu tun. Also mal der Reihe nach!

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Von Berlin nach Gefell

Die Geschichte beginnt im November 1928, als Georg Neumann gemeinsam mit Erich Rickmann die Kommanditgesellschaft Georg Neumann & Co in Berlin gründet. Zuvor hatte Georg Neumann für die Firma Reisz gearbeitet und ein technisch verbessertes Kohlemikrofon entwickelt, doch er ahnte, dass mit einem kapazitiven Schallwandler noch viel besserer Klang möglich sein müsste. Denn die Membran einer Kondensatorkapsel ist extrem leicht und kann den Schallschwingungen daher präzise folgen. Amerikanische Entwickler hatten bereits entsprechende Patente angemeldet, und es gab auch schon funktionsfähige Kleinserienmodelle, deren Zuverlässigkeit jedoch sehr zu wünschen übrig ließ. Es war Georg Neumann in Berlin, dem es als erster gelang, ein zuverlässiges Kondensatormikrofon industriell zu fertigen. Sein CMV 3 war ein technologischer Durchbruch.

Das alte Firmengebäude in Gefell, eine ehemalige Textilfabrik. (Bild: Dr. Andreas Hau)

Nur vier Jahre später präsentierte er den nächsten Meilenstein, die Austauschkapsel M7 mit Nierencharakteristik. Mikrofone mit unidirektionaler Richtwirkung waren bis dahin eine Seltenheit; Mikrofone arbeiteten üblicherweise mit Kugelcharakteristik. Auch in Sachen Klangqualität war die M7 ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus: In Gefell wird sie bis heute hergestellt − sogar nach Originalrezept mit PVC-Membran. Denn an dieser 1932 vorgestellten Kapsel gibt es kaum etwas zu verbessern; ihr ausgewogener Klang ist zeitlos schön. Ihren großen Auftritt hat die M7-Kapsel 1936 bei der Übertragung der Olympischen Spiele in Berlin.

Der Betrieb floriert. Doch 1938 erleidet die Firma einen schweren Schicksalsschlag, als der Mitgründer Erich Rickmann unerwartet stirbt. Gemeinsam mit dem Betriebsleiter Erich Kühnast gelingt es Georg Neumann jedoch, das Unternehmen weiterzuführen. Doch dann bricht der Zweite Weltkrieg aus. Anfang der 40er-Jahre wird das Firmengebäude in der Michaelkirchstraße von Bomben getroffen.

Georg Neumann beschließt, den Firmensitz zu verlagern, und sucht einen abgelegenen Ort fernab der Metropolen, wo seine Firma vom Bombenhagel verschont bleiben soll. 1943 zieht der gesamte Betrieb mit einem Großteil der Mitarbeiter in eine ehemalige Textilfabrik im Vogtland. Gefell heißt der Ort, der bereits seit 1474 Stadtrecht genießt, obwohl er nur rund 1.500 Einwohner zählt. Bis zur bayerischen Grenze sind es gerade einmal 5 Kilometer, und man mag sich kaum vorstellen, wie die Firmengeschichte verlaufen wäre, hätte Georg Neumann sein Ausweichquartier jenseits der nur durch einen Bach markierten Grenze gefunden. So aber fällt Gefell nach Ende des Zweiten Weltkriegs in die sowjetische Besatzungszone. Infolgedessen wird der Betrieb für Georg Neumann immer schlechter erreichbar.

Nur 100 m weiter steht das heutige Hauptgebäude, das noch zu DDR-Zeiten errichtet wurde, als Festkörper-Lasteranlagen entwickelt und gefertigt werden sollten. (Bild: Dr. Andreas Hau)

Nach Kriegsende führt Georg Neumann ein rastloses Leben zwischen Gefell, Berlin, Paris und Heilbronn. Zwischenzeitlich hatte er begonnen, sich für Akkumulatorentechnik zu interessieren. Für die von ihm entwickelte gasdichte Nickel-Cadmium-Zelle erhält er ein Patent, das er gewinnbringend verkauft. In Heilbronn, wohin sein Berliner Freund Eugen Beyer umgezogen ist, um seine ebenfalls von Kriegseinwirkungen beschädigte Firma Beyerdynamic neu aufzubauen, startet Georg Neumann eine eigene Fertigung für »Stabilit«-Zellen − quasi ein Nebenprodukt seiner Akkumulatoren-Forschung. Er verwendet sie u. a. zur Stabilierung der Heizspannung in seinen Kondensatormikrofonen. Dass er seine Mikrofonfirma in Gefell wohl nicht mehr zurückerhalten würde, muss Georg Neumann früh klar geworden sein, denn bereits 1947 gründet er zurück in Berlin ein zweites Unternehmen, die Georg Neumann GmbH, um seine audiotechnischen Ideen umzusetzen.

Das heißt jedoch nicht, dass er sich nicht mehr um seinen Betrieb in Gefell gekümmert hätte. Es existieren Fotos aus den 1950er-Jahren, die Georg Neumann bei Besuchen in Gefell zeigen. Selbst nach dem Mauerbau werden die Kontakte fortgeführt − illegal aus Sicht der DDR-Führung, die Spitzel ins Unternehmen eingeschleust hatte, wie später aus den Stasi-Akten hervorgeht. Es droht die Verstaatlichung. Bereits 1956 wird Georg Neumann & Co ein »Betrieb mit staatlicher Beteiligung« (BSB). Dann kommt der 24. April 1972. Über Nacht wird die gesamte mittelständische Industrie der DDR enteignet. Der Betrieb wird umbenannt in VEB Mikrofontechnik Gefell; die Produkte werden fortan unter dem Label RFT vermarktet.

Wirtschaftlich läuft es in Gefell jedoch gut, denn der Betrieb beliefert den gesamten Ostblock mit hochqualitativen Mikrofonen. Das Produktionsvolumen ist entsprechend hoch; der Betrieb wächst auf 160 Mitarbeiter an. Entwickelt und gefertigt werden nicht nur Studiomikrofone, sondern auch Bühnenmikrofone wie das PM 750 und sogar drahtlose Mikrofone. Letztere sorgen bei TV-Übertragungen für den guten Ton, u. a. bei »Ein Kessel Buntes«, der damals wohl beliebtesten Unterhaltungssendung der DDR, in der auch internationale Gäste wie Mireille Mathieu und Bonnie Tyler auftreten.


Das Georg Neumann Museum wurde 2013 am Firmensitz in Gefell eröffnet und dokumentiert die Firmengeschichte mit zahlreichen, teils einmaligen Exponaten. Interessierten können es nach Terminvereinbarung besichtigen.


Ein wichtiges Standbein sind seit jeher aber auch die Messmikrofone. Bis heute machen sie rund die Hälfte des Umsatzes aus. Eines dieser Messmikrofone reiste sogar ins All: Als Sigmund Jähn 1978 als erster Deutscher zu seiner historischen Raummission aufbrach, war ein MK 202/MV 202 Messmikrofon aus Gefell mit an Bord, um auf der Orbitalstation Salut 6 Veränderungen des menschlichen Hörvermögens durch die Schwerelosigkeit zu untersuchen.

Als mit dem Niedergang des sozialistischen Wirtschaftssystems der Bedarf an Studiomikrofonen sinkt, beauftragt die DDR-Führung den Betrieb in Gefell mit der Fertigung von Festkörper-Laseranlagen. So sollen freiwerdende Produktionskapazitäten genutzt werden. Entwickelt werden die Laseranlagen in Kooperation mit der Friedrich Schiller Universität Jena. Im Zuge dessen wird der Betrieb in VEB Microtech Gefell umbenannt. Sogar eine hochmoderne Produktionsanlage soll entstehen. Ein Perspektivmodell wird erstellt, doch es wird nicht mehr umgesetzt. Die DDR war wirtschaftlich und politisch am Ende.

Zeitenwende

So sehr sich die Menschen in der DDR, gewiss auch in Gefell, den Mauerfall und die damit verbundene persönliche Freiheit gewünscht hatten, so folgenschwer sollte er sich auf wirtschaftlicher Ebene erweisen. Für Microtech Gefell bedeutete der Beitritt zur BRD und ihrem Währungssystem, dass der gesamte bisherige Markt wegbrach. Im Ostblock waren die Studio- und Messmikrofone aus Gefell bekannt und gefragt; im Westen kannte sie kaum jemand. Noch dazu waren sie inkompatibel zur westlichen Studiotechnik. Die 48-Volt-Phantomspeisung wurde ja erst nach dem Mauerbau erfunden und hatte sich im gesamten Ostblock nie durchgesetzt − ebenso wenig wie die westlichen XLR-Steckverbinder. Stattdessen hatte man in Gefell eigene Multipin-Steckverbinder entwickelt. Für den − noch zu erschließenden − westlichen Markt musste das gesamte Sortiment an Studiomikrofonen überarbeitet werden.

Die berühmte M7 − hier ein Exemplar aus einem UM 57 von Anfang der 1960er; sie funktioniert noch immer. (Bild: Dr. Andreas Hau)

Der Fortbestand des Unternehmens stand auf der Kippe. Mit der Wiedervereinigung wäre der Betrieb eigentlich den Erben des 1976 verstorbenen Georg Neumann zugefallen. Diese hatten an der Weiterführung des Unternehmens aber kein Interesse. Auch zu einer Wiedervereinigung mit der Berliner Georg Neumann GmbH sollte es nicht kommen, denn diese war inzwischen selbst finanziell angeschlagen und wurde 1990/91 von Sennheiser übernommen. So beschließen Fritz Drechser, sein Sohn Christian und Jochem Kühnast, der Sohn des ehemaligen Betriebsleiters Erich Kühnast, den Betrieb auf eigene Faust zu retten. Alle drei sind dem Unternehmen über lange Jahre verbunden. Gemeinsam kaufen sie den Neumann-Erben die Geschäftsanteile ab, um den Betrieb in Eigenverantwortung weiterzuführen. Es ist ein harter Kampf − auch mit der Treuhandgesellschaft, der sie die Sanierungsfähigkeit nachweisen müssen, während windige Investoren aus dem Westen versuchen, den Betrieb zu übernehmen. Wir erinnern uns: In jenen Jahren wechselte so mancher DDR-Betrieb für kleines Geld, teilweise nur eine symbolische Mark, den Besitzer, bloß um anschließend von diesen ausgeweidet zu werden. Im Westen herrscht Goldgräberstimmung.

Dank des beherzten Engagements der Herren Drechsler und Kühnast bleibt Microtech Gefell dieses Schicksal erspart, doch schmerzhafte Einschnitte lassen sich nicht vermeiden. Die Mitarbeiterzahl sinkt von ehemals 160 auf nur mehr 29. Unerfreulich ist auch der Blick in die nun zugänglichen Stasi-Akten, wo Menschen, die man für Freunde hielt, als Informanten auftreten. So finden sich u. a. Protokolle über die als illegal eingestuften Kontakte zu Georg Neumann. Doch allmählich sieht man Licht am Ende des Tunnels: Nach langer juristischer Auseinandersetzung gibt die Treuhand zum 1. Januar 1993 den Betrieb zurück.

Portfolio

Im Verlauf der langen und bewegten Firmengeschichte wurde in Gefell eine umfassende, eigenständige Modellpalette entwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen zunächst neue Mikrofonflaschen wie das CMV 5, bestückt mit der rauscharmen Röhre EF12K, mit denen sich das bestehende Kapselsortiment weiter nutzen lässt. Deutlich kompakter ist das 1956 vorgestellte CMV 563 mit EC92-Röhre. Es gehört bis heute zu den bekanntesten Produkten aus Gefell und wurde vor einigen Jahren neu aufgelegt − originalgetreu in Handarbeit, aber mit ein paar sinnvollen Verbesserungen (s. S&R 8.2014). Die Schaltung des CMV 563 bildet auch die technische Basis für den nächsten Entwicklungsschritt: 1957 erscheint das UM 57, ein Studiomikrofon auf dem (damals) aktuellen Stand der Technik: Die M7-Großmembrankapsel und die Mikrofonelektronik bilden nun eine Einheit; die Richtcharakteristik (Kugel/Niere/Acht) ist am Netzteil einstellbar. Das UM 57 ist sogar etwas kompakter als vergleichbare West-Produkte. In den 1960ern entsteht gar eine Stereoversion, das ZUM 64, mit zwei übereinander angeordneten Doppelmembransystemen, die gegeneinander verdreht und separat in der Richtcharakteristik umgeschaltet werden können.

Ein Prospekt von 1966: links das umschaltbare Röhren-Großmembranmikrofon UM 57, rechts das 1964 eingeführte ZUM 64, eine seltene Stereo-Variante − Technik auf der Höhe der Zeit.

Auch Kleinmembranmikrofone werden in Gefell gefertigt. Man setzt dabei auf ein modulares System aus Verstärkerteil mit austauschbaren Kapseln. Die Kugelkapsel M 58 und die Nierenkapsel M 62 sind bestückt mit einer hauchdünnen Nickelmembran. Der Impedanzwandler M 582 ist − wie das CMV 563 − mit einer EC92-Röhre ausgestattet. 1969 erscheint der transistorisierte Nachfolger MV 690, und das modulare Mikrofonsystem, das nun die Bezeichnung SMS70 erhält, wird sukzessive ausgebaut. Es erscheinen weitere Kapseln, darunter Kleinmembrankapseln mit Kunststoffmembran, aber auch eine Richtrohrkapsel. Mit der M 71 (Niere) und der UM 70 (Kugel/Niere/Acht umschaltbar) werden sogar Großmembrankapseln in das System integriert. Übrigens wieder mit der klassischen M7-Kapsel ausgestattet.

In den 1970ern und 80ern widmen sich die Entwickler u. a. hochwertigen Bühnenmikrofonen in Kondensatortechnik. 1975 erscheint das PM750 mit Nickelmembran und 1986 sein Nachfolger, das PM 860 mit Polyestermembran und keramischer (!) Gegenelektrode. Auch die bereits angesprochenen Drahtlos-Mikrofone werden in jener Zeit entwickelt.

Nach der Wende erkennt Microtech Gefell früher als viele Konkurrenten, dass Röhrenmikrofone sich wieder gesteigerter Beliebtheit erfreuen. Bereits 1992 erscheint mit dem UM 92S eine behutsam modernisierte Version des Gefell-Klassikers UM 57. Seither bilden Röhren-Großmembranmikrofone (wieder) einen festen Bestandteil des Lieferprogramms. Besonders hervorzuheben ist das Modell UM 900, denn es ist das weltweit einzige Röhrenmikrofon, das sich mit Phantomspeisung betreiben lässt. Sein Geheimnis ist − neben einer cleveren Schaltung − eine extrem stromsparende Subminiaturröhre, die ursprünglich für Hörgeräte entwickelt wurde.

Alle Metallteile werden seit jeher selbst gefertigt, auch die Oberflächenveredelung geschieht in-house. (Bild: Dr. Andreas Hau)

Microtech Gefell fertigt aber weiterhin auch hochentwickelte Studiomikrofone in Transistortechnik. Zu einem modernen Studiostandard hat sich das M 930 entwickelt. Seine neu entwickelte Kapsel hat eine feste Nierencharakteristik und bietet ein etwas höhenreicheres, »moderneres« Klangbild als die Gefell-Klassiker mit M7-Kapsel (die in überarbeiteter Form als MT 71S und UMT 70S Teil des Lieferprogramms bleiben). Zudem ist das M 930 für ein Großmembran-Kondensatormikrofon außergewöhnlich kompakt konstruiert und gehört mit einem Ersatzgeräuschpegel von nur 7 dB-A zu den rauschärmsten Studiomikrofonen überhaupt. Aufgrund seiner hohen Beliebtheit folgten später Versionen mit Ausgangsübertrager (M 930 Ts), größerem Gehäuse (M 1030) sowie Varianten mit den Richtcharakteristiken Superniere (M 940) bzw. Breitniere (M 950) und Kugel (M 960).

Microtech Gefells Erfolgsmodell M 930 in der trafosymmetrierten TS-Variante (Bild: Dr. Andreas Hau)

Sehr umfangreich ist auch das Kleinmembran-Sortiment. Neben den Standardmodellen M 300 (Niere), M 310 (Superniere) und dem M 320 (Kugel) mit goldbeschichteten Mylar-Membranen wird auch ein modulares System angeboten, das SMS2000. Daneben gibt es echte Spezialitäten: Das M 221 ist ein Kugel-Kleinmembranmikrofon, basierend auf einer hochlinearen Messmikrofonkapsel, während die Modelle M294/295 (Niere), M 296 (Kugel) und M 297 (Superniere) mit hauchdünnen Nickelmembranen und teflonbeschichteten Gegenelektroden arbeiten.

Ein ganz besonderes Mikrofon aus Gefell kennt jeder Bundesbürger − auch wenn die wenigsten es überhaupt als Mikrofon wahrnehmen: Das Kardioid-Ebenen-Mikrofon KEM 970 wird im Bundestag als Rednermikrofon verwendet. Zwei Exemplare dieses stabförmigen Mikrofons befinden sich links und rechts des Rednerpults. Das Besondere an diesem Mikrofon, abgesehen von der Optik, ist, dass Schall oberhalb und unterhalb der Zeilenmitte ausgeblendet wird. Das macht es unempfindlich gegenüber Störschall aus den Rängen oberhalb des Rednerpults. Inzwischen wird das KEM 970 bzw. sein etwas kompakterer Nachfolger KEM 975 auch in vielen Landtagen und in ausländischen Parlamenten eingesetzt. Auch für musikalische Anwendungen lässt es sich verwenden; beim KEM 975 lässt sich optional eine sogenannte Delta-Kapsel hinter dem Mikrofon anbringen, um die Kardioid-Ebenen-Charakteristik bis in die Bassfrequenzen zu erweitern. Damit lässt sich beispielsweise ein Chor aufnehmen, der oberhalb des Orchesters angeordnet ist − wie zum Beispiel im Gewandhaus Leipzig − ohne dass das Übersprechen der Orchesterinstrumente Überhand nimmt.

Gruppenbild mit Dame: Vertriebsleiter Udo Wagner, Geschäftsführer Dr. Matthias Domke,
Miteigentümer Jochem Kühnast und seine Enkelin Elisabeth Kühnast, die das Marketing leitet.
(Bild: Dr. Andreas Hau)

Die Feier

Begangen wurde das 90-jährige Bestehen nicht am Firmensitz in Gefell und auch nicht im Gründungsmonat November, sondern Mitte September, bei bestem Spätsommerwetter, in der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Hof − den Cineasten bekannt als Heimat der Internationalen Hofer Filmtage. Gerade für die weit angereisten Gäste eine gute Wahl, denn Hof ist per Bahn bestens zu erreichen, anders als die Kleinstadt Gefell, die Georg Neumann seinerzeit ja gerade wegen ihrer entlegenen Lage als Firmensitz ausgesucht hatte.

Im doppelten Sinne artistisch: Yuco Hoppe spielt Piano über Kopf! (Bild: Dr. Andreas Hau)

Aus dem In- und Ausland waren zahlreiche Gäste angereist: Musiker, Mikrofonsammler, Toningenieure, Vertriebler, Journalisten, Forscher und Dozenten von Universitäten und Hochschulen, Ingenieure und Entwickler − auch von der Konkurrenz. Das sympathische Unternehmen aus Thüringen hat viele Freunde, und so war die Studiobühne im Theater Hof bis auf den letzten Platz gefüllt. Nach den Grußworten von Geschäftsführer Dr. Matthias Domke und Vertriebsleiter Udo Wagner fand im Hotel gegenüber ein attraktives Vortragsprogramm statt. Themen waren u. a. 3D-Audio mit Vorträgen von René Rodigast (Fraunhofer IDMT) und Christian Birkner (HTWK Leipzig), während John Willet Mikro fon-Basics erklärte. Ein Highlight für die technisch Interessierten war Dr. Matthias Domkes Forschungsbericht zu Line-Arrays, in denen er anhand von Klangbeispielen eindrucksvoll demonstrierte, wie sich einzelne Sektionen eines Orchesters alleine durch Beamsteering separieren lassen − eine klanglich attraktive und optisch weniger auffällige Alternative zu Stützmikrofonen. Dazu wurden die Einzelsignale der übereinander angeordneten Kapseln eines KEM 975 Zeilenmikrofons separat herausgeführt und auf digitaler Ebene verarbeitet. Am Ende dieser Forschungen könnte ein völlig neuartiges Mikrofonprodukt stehen − es wäre nicht das erste von Microtech Gefell.

Ein überdimensionales UM 900 als Torte! (Bild: Dr. Andreas Hau)

Der Tag klingt aus mit musikalischen Darbietungen der Berliner Sängerin und Schauspielerin Bettina Meske und der japanischen Pianistin Yuco Hoppe, musikalische Geburtstagsgrüße im Stil berühmter Komponisten interpretiert − ein Stück sogar über Kopf auf dem Klavierhocker liegend! Noch einmal werden Reden gehalten. In bewegenden Worten lässt Miteigentümer Christian Drechsler die Geschichte von Microtech Gefell Revue passieren. Und auch eine Filmpremiere gibt es − klar, schließlich sind wir in Hof (»Home of Films«, wie Wim Wenders den Stadtnamen einst umdeutete): Ein erst tags zuvor fertiggestellter Kurzfilm über das Georg Neumann Museum in Gefell wird erstmals der Öffentlichkeit vorgeführt.

Anschließend betritt Jochem Kühnast, der Hauptdarsteller des Films und das lebende Gedächtnis des Betriebs, die Bühne und referiert über sein neustes Forschungsobjekt: ein Kohlemikrofon. Eigentlich im Ruhestand, hatte ihn irgendwann die Neugier gepackt, was mit dieser − vermeintlich − veralteten Technik möglich ist. Wie sich herausstellte, hätte das Kohlemikrofon durchaus das Zeug, im 21. Jahrhundert (wieder) Käufer zu finden und somit auch einen Platz im Microtech-Gefell-Portfolio, das bekanntermaßen reich ist an Spezialmikrofonen. Man darf gespannt sein!

Und so schließt sich der Kreis zum Firmengründer Georg Neumann, dessen Forschergeist einst von einem Kohlemikrofon geweckt wurde. Jener erste Impuls, ein besseres, nein: das beste Mikrofon bauen zu wollen, war es, der alles in Gang setzte, was folgte, und uns 90 Jahre später hier zusammenführen sollte.

Der langjährige technische Leiter Jochem Kühnast hat das Kohlemikrofon wiederentdeckt: Vor ihm zwei Exemplare von Reisz, links ein von ihm selbst entwickelter Prototyp. (Bild: Dr. Andreas Hau)

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Ein super Bericht (wie immer von Andreas Hau). Microtech Gefell ist auch für Anregungen von Kunden oder Akustik-Experten immer sehr offen und zugänglich.

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  2. Mit Grossem Interresse habe ich den Bericht gelesen,ist doch meine Familien-
    geschichte eng mit”Georg Neumann & Co”verbunden.Mein Vater Alfons Niessen
    (starb 1956)war mehr als 25 Jahre in der Firma als Feinmechanikermeister tätig und kannte GN persönlich.
    Wir wohnten bis 1956 im Firmengebäude Mühlberg 2.Firmenchef Erich Kühn-
    ast,Kurt Bartel,Frau Ebenteuer sind in meiner Erinnerung geblieben an die
    Siedlung”Kleinberlin” in Gefell erinnere ich mich noch heute.Viele gute Erinnerun-
    gen sind geblieben,umsomehr freut es mich, das die Firmengeschichte erfolgreich weitergeschrieben wird
    MfG Ulf Niessen

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  3. Sehr interessanter Bericht. Habe in dieser Ausführlichkeit bisher keinen Beitrag über Mikrofone gelesen, die einen guten Überblick über die Fertigung von Mikrofonen in Deutschland gegeben. Danke
    Hans Werner Lange

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