Studiotipps Kniffe, die die Welt verbessern

Im Mixing genau das Gegenteil tun

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Vor vielen Jahren war ich auf der Suche nach einem bestimmten Equalizer. Ich hatte eine Vorstellung davon, wie ein bestimmter Gitarrensound klingen sollte, und hatte gedacht, dass es an der Qualität des EQs liegen müsste. Wir waren in einem professionellen Studio, und ich hatte nicht mitbekommen, was der Tontechniker dort alles am ADT-Pult gezaubert hatte, aber die Aufnahme dieser Gitarre war beeindruckend anders als alles, was wir im Proberaum alleine versucht hatten.

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Das lag an den Höhen. So klar und detailliert hatte diese Gitarre vorher noch nie geklungen. Es muss sicher am EQ gelegen haben, so eine passende Höhenanhebung habe ich damals mit keinem unserer EQs nachstellen können. Ich habe eine Weile versucht, an diesen Sound heranzukommen, ohne die Einzelspuren zu haben. Es klappte nie. In unserem aktuellen digitalen Studio haben wir nun beinahe jeden EQ der Welt, das Plugin-Universum simuliert sogar SSL und Neve! Es sollte doch kein Problem sein, dieses Rätsel endlich zu lösen, oder? Neulich habe ich es probiert, weil ich beim Umkopieren von alten 40-GB-Festplatten auf den Server zufällig auf diese Session gestoßen bin. Kaum war die Spur geladen, war mir völlig klar, was die Tontechniker damals gemacht haben: Vielleicht eine minimale Anhebung der Höhen, aber vor allem haben sie den unteren Mitten- und Bassbereich massiv reduziert. Es ging nie um ein Anheben der Höhen, aber im kompletten Mix ist es das, was unser Ohr wahrnimmt. Hört man die Spur unbearbeitet an, dröhnt der gesamte Fundament- und Bassbereich. Reduziert man diesen, werden für unser Ohr die Obertöne präsenter.

Höhen anheben? Bässe absenken!

Diesen “Gegenteil-Effekt” gibt es häufig. Der Flügelsound eines Digitalpianos setzt sich im Mix nicht durch. Wir drehen die Höhen auf und heben die oberen Mitten an. Und schon klingt alles künstlich − bestimmt braucht es nur ein fettes analoges Pult, und schon wird alles gut? Nein, vielleicht ist auch dort einfach genau das Gegenteil richtig!

Der Frequenzgang des Flügelsounds sieht auf dem Analyzer so aus: Er klingt dumpf, und genau das sieht man in Abbildung 01 im oberen Bereich auch. Wenn ich nun in einem vollen Mix meinen Ohren vertraue, bearbeite ich den Sound eventuell so, dass er sich gut durchsetzt und gegen die anderen Instrumente behauptet. Die Bearbeitung könnte aussehen wie in Abbildung 02. So zu mischen führt in einem Mix schnell dazu, dass sich alle Instrumente am Ende nur noch anbrüllen.

Jedes Instrument wird lauter, schriller − am Ende ergibt sich ein Klangbrei, den sich keiner mehr anhören mag. Auch mit noch so gutem Mastering ist solch ein Mix oft nicht mehr zu retten! Bereinigen wir dagegen den Bassbereich, passt der Sound perfekt. Vielleicht hebst du noch ein wenig die Höhen an, aber dies wird sicher wesentlich dezenter sein als vorher.

Vocals

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1 Als Analyzer benutze ich hier das kostenlose Plugin AnSpec von www.voxengo.com

Diesen Effekt gibt es bei beinahe allen Signalen, die wir in einen Mix einbetten möchten. Ein Beispiel sind etwa Gesangsstimmen.

Wenn ich dort merke, dass ich in bestimmten Bereichen überproportional viel anheben möchte, rufe ich mir den »Gegenteil-Effekt« ins Gedächtnis und korrigiere die Frequenzen entsprechend andersherum, ewa bei einer weiblichen Balladen-Gesangsstimme, die ich präsenter nach vorne holen möchte.

Natürlich setzt sich die Stimme mit meiner Anhebung besser durch, aber ich schaffe dadurch neue Probleme. Zischlaute treten hervor, die Aufnahme klingt nicht mehr wie aus einem Guss, sondern irgendwie künstlich. Der Höhenbereich ist nicht gleichmäßig, einige Worte und Noten stechen regelrecht hervor, die ganze Betonung passt nicht mehr zum Kontext. Der Sängerin hat die Bearbeitung auch nicht gefallen: “Kannst du da etwas mehr Raum draufgeben?”

Da wir den Gegenteil-Effekt nun kennen und beherzigen, probieren wir genau die andere Bearbeitung. Anstatt die Stimme zu boosten, drehen wir den Spieß um und cutten im Mittenbereich. Schon setzt sich die Stimme gut durch, lässt Platz für die restlichen Instrumente, und auch die Höhen wirken sehr natürlich!

Channelstrip

An diese Art der Bearbeitung denke ich immer, wenn ich anfange, mehrere Frequenzbänder in benachbarten Bereichen recht stark anzuheben. Unsere EQs können heute beinahe alles, es ist kein Problem, mit einem digitalen EQ solche Bearbeitungen zu machen. Und im ersten Moment funktionieren diese Tricks ja sogar! Auf lange Sicht bedeutet das aber: Je mehr Instrumente in einem Mix zusammenkommen, desto weniger funktionieren solche Bearbeitungen und desto mehr Probleme handle ich mir mit ihnen ein.

Ich habe in den Studiotipps schon oft dafür geworben, mit eher eingeschränkten Plugins zu arbeiten. Früher hatte ein Studio eben nur ein Mischpult und nicht zehn verschiedene! Heute haben wir im Rechner selbst mit den Bordmitteln der Sequenzer oft schon mehrere Klangfarben zur Auswahl. Jeder von uns mag Optionen und gute Plugins, aber meist hilft es mir, wenn ich mit einem einzigen virtuellen Channelstrip auf jedem Kanal meiner DAW starte. Das kann natürlich auch ein Plugin aus den Bordmitteln deines Sequenzers sein! Es sollte aber ein Plugin sein, das so wenige Ressourcen benötigt, dass du es wirklich auf jedem Kanal einsetzen kannst. UAD/Neve 88RS Channel Strip Legacy oder der SSL Duende Console Channel Strip wären meine Tipps für abso – lut professionelle, aber ressourcenschonen – de Legenden.

Warum diese Einschränkung? Weil es immer mehrere Wege zum Ziel gibt, man sich aber durch zu viele Optionen auch den Weg dahin unnötig schwer machen kann. Ein EQ mit 10 Bändern kann uns verleiten, Dinge falsch zu bearbeiten. Wer einen Mix mit einem einfacheren EQ pro Kanal nicht hinbekommt, braucht meist auch keinen 10-Band-EQ! Ich verwende komplexe EQs beinahe nur noch zur Korrektur bei extrem problematischen Signalen. Wenn ich mit einem der oben genannten Channel-Strips nicht weiterkomme, zeigt mir das eher, dass ich gerade etwas “kaputt” bearbeite.

Editiere nicht, sondern übe! 

Ohnehin ist es eine schnelle Hilfe, wenn wir uns bewusst werden, dass wir im Software-Universum zwar alles können, aber uns nicht alles guttut. Ein Beispiel ist das Editieren von Aufnahmen. “Lass die Aufnahme so, du kannst es nachher mit tausend Funktionen verbiegen und editieren!” Was dann beginnt, ist oft eine Suche nach dem richtigen Plugin oder der richtigen Funktion. Oft dauert das Editieren länger als das Mikro neu auszurichten oder vielleicht auch nur die Aufnahmeposition im Raum zu ändern. Und oft bleibt der Sound dann trotz viel Arbeit lediglich mittelmäßig. Viele Einsteiger sitzen dem Mythos auf, dass sie mit einem hochwertigen, teuren Audio-Interface und Mikros in den Preisregionen eines gebrauchten Kleinwagens endlich jedes Detail eingefangen haben und damit automatisch gute Aufnahmen machen würden, die sie später in jede Richtung verbiegen könnten.

Ein gutes Mikro ist wichtig, ein guter Vorverstärker ebenso, aber trotzdem dürfen wir uns nie darauf verlassen, dass wir im Nachhinein die passenden Details aus unserer Aufnahme herauskitzeln können. Wenn es vorher schon nicht perfekt ist, editieren wir die Aufnahme im schlimmsten Fall kaputt. Egal wie teuer oder edel das Equipment war! Einen Take, der nicht groovt, kann man mit den ganzen Funktionen einer DAW heute schneiden und quantisieren, aber oft wird daraus mit viel Arbeit lediglich unterer Durchschnitt. Wieso habe ich die gleiche Zeit nicht für das Üben der Passage und ein neues Einspielen verwendet? Je länger ich mich mit dem Editieren einer Passage beschäftige, desto mehr verschwindet das aus meinem Kopf, was ich eigentlich damit sagen wollte. Meine Ohren gewöhnen sich an den Sound, das Gesamtbild verschwindet, und am Ende konzentriere ich mich auf Details, die niemand außer mir wahrnimmt.

Es gibt eine ganz einfache Lösung, die vielleicht etwas Überwindung kostet: Lösche mittelmäßige Takes! Überlege, wie du sie besser einspielen könntest. Editiere sie nicht, sondern spiele den Part erneut! Das wird bisweilen schwierig, wenn die Musiker diese Philosophie so nicht mittragen möchten, aber mit einem beharrlichen “Kannst du noch einen Take spielen, das war schon richtig gut!” klappt es vielleicht doch. Editiere nur die Dinge, die ohnehin schon gelungen sind!

Fazit

Natürlich sind unsere Ohren das Maß aller Dinge. Aber wir Menschen gewöhnen uns sehr schnell an Eindrücke und nehmen unsere Umgebung insgesamt nur auszugsweise wahr. Wir müssen daher lernen, die Forderung unserer Ohren zu überprüfen und dann die Richtung vielleicht sogar umdrehen. Ich wünsche dir viel Spaß beim Experimentieren.

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