De/constructed

Nachgebaut: Calvin Harris feat. Ellie Goulding – Miracle

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In dieser Workshop-Reihe zeigen wir, wie und mit welchen Tools sich aktuelle Charthits und zeitlose Klassiker zu Hause in der eigenen DAW (nach-)produzieren lassen, um daraus Techniken und Ideen für eigene Produktionen zu entwickeln. In dieser Folge schauen wir uns die aktuelle Single Miracle von Calvin Harris an, für die sich der schottische Star-DJ wieder mit Ellie Goulding zusammengetan hat.

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Style-Analyse

Social Media Plattformen wie TikTok wirbeln uns heute Trends und Styles in Windeseile um die Ohren, sodass man gar nicht mehr genau sagen kann, was eigentlich »das nächste große Ding« wird – wenn es das denn überhaupt noch gibt. Zumindest lässt sich ein gewisser Retrogeist und der Rückgriff auf Altbewährtes erkennen. Dazu zählt auch der Sound der 90er, der spätestens mit dem Öffentlichkeits-wirksam ausgetragenen Copyright-Streit von Robin Schulz und southstar um den Track Miss You wieder präsent ist. Das hat auch Calvin Harris erkannt und zeigt sich in seiner bereits dritten Kollaboration mit der britischen Sängerin Ellie Goulding einmal mehr wandelbar und am Puls der Zeit. Miracle ist Oldschool Rave/Dance in Reinkultur – mit den heutigen Mitteln produziert. Es brodelt und pulsiert mit oldschooligen Eurodance-Beats um die 140 bpm, klassischen Offbeat-Bässen und Gater-Sounds. Im Outro begegnet uns gar ein Drum’n’Bass-Zitat. Auf die guten alten 90er!



De/constructed live

Die De/constructed-Folge zu diesem Artikel gibt es live am 20.06.2023 um 19:30 Uhr genau hier sowie in unseren Social-Media-Kanälen auf YouTube, Facebook und LinkedIn.

Hier findest du alle Dateien zum Download:

Mixdown:



Drums & Bass

Hier haben wir es mit einem typischen 90er-Jahre Dance-Pattern, bestehend aus Four-to-thefloor Kick, Claps und Offbeat-Hi-Hats und -Bässen, zu tun. Derartige Patterns sind im Dance natürlich Standard, woher kommt also der 90er-Vibe? Hier wäre zunächst einmal das Tempo: Während aktuelle Dance-Tracks sich seit Langem bei maximal 128 bpm eingependelt haben, sind die hier gewählten 143 bpm sehr »ravig« schnell. Dazu kommt eine bauchige Großraumdisco-Kick, die eben nicht mit knallhartem Sub und attackigem Top End aufwartet. Dazu ist sie auch noch angezerrt – eine typische Vorgehensweise in den 90ern, die Kick aus dem Roland TR-909 Drumcomputer aggressiver und punchiger klingen zu lassen. Dasselbe gilt für die Offbeat-Hi-Hat und die 16tel closed Hats/Ride/Percussion, die auch sehr an die 909 angelehnt sind, dazu aber mittels Bitcrusher in der Sampling-Frequenz und Bitrate reduziert werden, um einen raueren Sound zu erhalten.

Ein weiterer Indikator für den Retrorückgriff sind die klassischen 909-Snare-Rolls mit kürzer werdenden Notenwerten (Diminution). Hierfür haben wir eine Kombination aus Factory Sounds des Battery Samplers (»909 Detailed Kit«) und ältere Vengeance-Samples verwendet. Für einen guten Flow war und ist es ein beliebter Trick, die Kick durch ein Achtel-Delay zu schicken, um sie mit dem Bass zu verbinden und die Offbeats zu betonen. In unserem Fall haben wir die Spur dupliziert, um eine Achtel versetzt und gefiltert, was einen kontrollierteren Zugriff auf die Betonungen ermöglicht.

Im Outro des Songs konnte sich Calvin Harris ein Zitat aus der ebenfalls in den 90ern beginnenden Drum’n’Bass-Zeit nicht verkneifen und verwendet den in zahllosen Tracks verarbeiteten Groove aus The Warm von Jimmy Mc Griff, der dann gecuttet und gepitched wird. Für unser Beispiel haben wir ein Layer verschiedener Breakbeats benutzt, in Drum’n’Bass-Manier gecuttet und mit Steinbergs Loopmash bearbeitet.

01 In unserem Pattern besteht die Kick aus einem Sample einer älteren Vengeance Sample Library, das mit Native Instruments Dirt angezerrt wird.
02 Mittels Bitcrusher werden die Unzulänglichkeiten alter Sampler-Wandler (übertrieben) nachgestellt.
03 Loopmash ist ein Livetool von Steinberg, mit dem Reverse, Pitch und Loop Effekte in Echtzeit erzeugt werden können.
04 Der Offbeat-Bass ist das modifizierte Diva-Preset »HS Flap Bass«, bei dem die Filter/Decay-Betonung etwas verstärkt wurde.
05 Der Lennar digital Sylenth 1 ist zuständig für den Hoover Bass (»HOV Royale«) und die 303-Bassline (ARP 303 Saw).
06 Der reFX Vanguard gehört zu den modernen Software-Klassikern, wurde allerdings lange nicht mehr weiterentwickelt und verschwand vom Markt. Nun gibt die Neuauflage Vanguard 2 mit sämtlichen Sounds von damals.
07 Das xfer Records LFO Tool wird in erster Linie für Sidechain-Effekte verwendet, hier erkennt man aber auch schon optisch den typischen 90’s-Gater-Rhythmus.
08 Sättigung mit der Brainworx Blackbox ...
09 ... und die Masteringchain in iZotope Ozone.
10 Das Pattern in Steinberg Cubase Pro 12

Bass

Hier haben wir es mit drei unterschiedlichen Bass-Typen zu tun: Einem kurzen Offbeatbass, einem Subbass für länger gehaltene Töne und einer klassischen Bassline, die in unterschiedlichen Teilen des Songs zum Einsatz kommen. Der Offbeat-Bass ist sehr einfach gehalten. Auch hier kommt es auf die Soundästhetik an, die die 90er-Vibes hervorruft, und das ist in diesem Fall eine Reminiszenz an den Techno-Klassiker Roland SH-101, mit leicht resonierendem Filter und einem durch eine kurze Decay-Zeit zuschnappendem Sound. Die Firma Roland war in den 90ern verantwortlich für viele heutige klassische Techno/Ravesounds, so auch für den sogenannten Hoover-Bass aus dem Alpha Juno-2. Hoover steht in diesem Zusammenhang sprichwörtlich für »Staubsauger«, denn wir haben es hier mit einer breiten obertonreichen stehenden Welle zu tun, die mit mehreren leicht gegeneinander verstimmten Oszillatoren erzeugt wird, die in der Pulsbreite moduliert werden. Damit wird in den Breakdowns der breite Subbass gespielt; zur Steigerung wird per Cutoff die Filterfrequenz langsam erhöht. Zuletzt kommt ein weiterer Roland-Klassiker zum Einsatz: Die TB-303 Bassline, jene Kombination aus Step Sequencer und Synthesizer mit unnachahmlichem Filter, ohne die es Acid Techno nicht geben würde. In unserem Fall wird die Line mit dem ersten Werks-Preset aus dem Sylenth 1 gespielt (»001: ARP 303 Saw«). Die Sequenz wird hier auch mit dem internen Arpeggiator generiert, der als Step Sequencer fungieren kann und bei dem abwechselnd Oktaven in 16teln getriggert werden.

Weitere Instrumente:

Orgeln/Pads

Los geht es im Intro-Verse mit liegenden Orgel-Chords, die sakrales Flair versprühen und damit auch ein bisschen an Madonnas Like A Prayer erinnern. Für unser Beispiel kam ein Layer aus zwei Arturia-B3-Instanzen (»Choral Organ«, »DI«) und Spectrasonics Omnisphere (»Shepherds in Church«) zum Einsatz. Die Funktion übernehmen im weiteren Verlauf String-Pads, die überwiegend aus dem Arturia Solina String Ensemble stammen und mit dem Plug-in »Flair« von Native Instruments moduliert werden. Richtiges 90’s Feel kommt aber erst durch die Gated Chords auf, die zum einen aus dem Arturia DX7 zur Unterstützung subtil ab dem zweiten Verse dazukommen und offensiv in Pad-Form mit der typischen Gate-Ryhthmik im letzten Drop zu hören sind.

Piano-Lead

Das zentrale Thema wird mit einem sehr drahtigen Klaviersound gespielt, der eher dancig und nicht natürlich klingen sollte, um sich in dem Arrangement als Leadsound durchzusetzen. In unserem Beispiel verwenden wir das »EDM Piano« aus der EDM-7-Erweiterung für den reFX Nexus. Wichtigste Zutat ist ein sehr präsentes Viertel-Delay, in unserem Fall das Soundtoys Echoboy. Im letzten Drop wird das Thema um digitale Voices aus Nexus ergänzt, die wiederum den Bogen zu Ravetracks der 90er spannen.

Arrangement und Master

Der Track ist 3’06 min lang und damit zeitlich im Rahmen heutiger Veröffentlichungen. Das Arrangement ist dennoch clever gelöst mit einem langen, mächtigen, sakralen Intro-Verse, zu dem es auch eine extra »Church Version« gibt, mit der der Track vorab angeteasert wurde. Danach geht es nahtlos in die Hook samt reduziertem Beat, ehe per Breakdown das Klavierthema eingeführt wird, das in einem Drop mündet. Danach folgt wieder der Verse, diesmal voll instrumentiert. Auf diese Weise bleibt das Arrangement trotz sich wiederholender Teile sehr dynamisch, abwechslungsreich und überraschend, was auch am Outro deutlich wird, in dem der Breakbeat zum ersten Mal kurz angedeutet wird, nur um dann direkt ausgefaded zu werden. Apropos Fade Out: Auch dieser ist heute eher selten zu finden und damit ebenso eine Reminiszenz an frühere Zeiten.

Master

Trotz eingesetzter Algorithmen für eine gleichmäßig empfundene Lautheit der Tracks in Streaming-Portalen hat man das Gefühl, dass Titel dennoch immer lauter werden, und so ist auch das Master von Miracle einfach sehr laut mit einem RMS-Pegel von durchschnittlich –3 bis –3,5 dB. Um eine solche Lautheit zu erzielen, setzen wir auf dem Masterbus den SIR Audio Tools Standard Clip ein, bevor der Freeware OTT Multibandkompressor mit 14 % Depth das Frequenzbild aufräumt. Um den Bassbereich kümmert sich der FabFilter Pro MB mit dem in Dance-Tracks beliebten Setting »Tighter Lows«. Anschließend sättigt das Brainworx Plug-in Blackbox den Mix, und iZotope Ozone fügt u. a. neben einer Stereoverbreiterung auch das abschließende Limiting durch.

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Stellar as usual! Could you please tell me which Halion Sonic SE and Omnisphere presets were used for strings?

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  2. Auch wenn ich heute EDM super finde, auch und gerade wegen Calvin Harris – genau diesen 90er-Dance-Sound fand ich früher als Hip-Hop-Fan zum Brechen :/ Hoffentlich verschwindet dieses Style-Revival schnell wieder in der Versenkung.

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