Mixpraxis

Benjamin Rice und Tom Norris über ihre Arbeiten zu Chromatica von Lady Gaga

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Lady Gagas sechstes Studioalbum Chromatica genießt seit seiner Veröffentlichung am 29. Mai dieses Jahres einen riesigen Erfolg. In kurzer Zeit kletterte es in mehreren Dutzend Ländern, darunter Großbritannien und die USA, in den Charts auf Nummer 1. Die erste Single Rain On Me mit Arianna Grande belegte ebenfalls vielerorts die Top-Position.

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Lady Gaga bezeichnet ihr aktuelles Album als »Ausdruck ihrer Begeisterung darüber, dass es möglich ist, Computern etwa so Tiefes und Gefühlvolles zu entlocken«. Musikalisch ist Chromatica eine Reminiszenz an die House-Music der 90er-Jahre, gesetzt in einen von modernem Pop und EDM inspirierten Kontext. Chromaticas umfangreiche Creditliste lässt darauf schließen, dass bei diesem Album nicht gespart wurde. Die Produktion dauerte zwei Jahre und beschäftigte mehrere große Studios, Dutzende von Musikern sowie eine Vielzahl von Produzenten, Engineers, Arrangeuren, Programmierern usw. Lady Gagas wichtigster musikalischer Partner und Co-Autor war der US-amerikanische Produzent BloodPop. Weiterhin sind Briton Matthew Burns, Tchami, Rami Yacoub, Madeon, Skrillex und der legendäre Max Martin als Autoren oder Produzenten aufgeführt.

Mit zwei weiteren für Chromaticas Entstehung essenziellen Namen wollen wir uns näher befassen: Benjamin Rice und Tom Norris.

Benjamin Rice berichtet am Telefon in Los Angeles, wie seine enge Zusammenarbeit mit Lady Gaga zustande kam: »Bei Artpop habe ich zum ersten Mal mit LG zusammengearbeitet. Anfänglich war ich zweiter Engineer. Gegen Ende des Projekts wurde ich erster Engineer und darauf LGs Mixer, Vocal-Producer, Engineer usw. Ich schätze es, für mehrere Bereiche einer Produktion verantwortlich zu sein. Wenn du über einen längeren Zeitraum die rechte Hand eines Künstlers bist, lernst du ihn wirklich kennen und wirst Teil seiner künstlerischen Entwicklung. So kannst du einen wirklich guten Job mit kontinuierlicher Qualität garantieren. Man muss sich dennoch bewusst sein, eine Dienstleistung zu liefern und damit ein großes Privileg zu genießen.

Benjamin Rice

Die Entstehung von A Star Is Born habe ich seinerzeit über die gesamten zwei Jahre begleitet. Auch bei Chromatica war ich vom ersten Tag des Songwritings bis zum Erhalt der Master dabei. Mit BloodPop habe ich schon mehrfach zusammengearbeitet. Wir sind gute Freunde. LG besitzt Frank Zappas ehemaliges Utility Muffin Research Kitchen Studio in den Bergen von Hollywood. Dort passierte das gesamte Songwriting. Ich habe versucht, bei allem am Ball zu bleiben – die Ideen aufzunehmen, Vocals zu recorden und den Aufnahmen eine erste Form zu geben. Mein Anspruch war, all das zu liefern, was LG und die Produzenten für ihre Arbeit benötigten, und dabei Dreh- und Angelpunkt der Produktion zu sein.

Nachdem das Projekt einen gewissen Fortschritt erreicht hatte, zogen wir für je ein paar Wochen in die EastWest- und Westlake-Studios. Für einen Tag besuchten wir Max Martins MXM-Studios und beendeten das Album schließlich mit einer sechsmonatigen Phase in den Henson Recording Studios. Im Ganzen haben wir zwei Jahre an Chromatica gearbeitet, mehrere Pausen eingerechnet. Während der gesamten Zeit bestand das Kernteam aus BloodPop, Burns, Rami sowie Tom Norris, der in den letzten sechs Monaten für den Mix dabei war, und mir. Darüber hinaus waren zeitweise weitere Produzenten involviert. Zudem war ich bei den Gesangsaufnahmen in Studio B immer dabei.

Eine Produktionsänderung der Instrumentalaufnahmen zog in der Regel auch eine Änderung der Gesangsaufnahmen nach sich. Es wurde also oft in mehreren Richtungen gearbeitet – fast wie in einer Band. Es gab wirklich einen ausgeprägten Teamgeist. Abgesehen von drei Orchester-Tracks habe ich alle Live-Instrumente aufgenommen, also Gitarren, Drums, Percussion usw. Die Orchester-Tracks wurden von der Komponistin Morgan Kibby erstellt. Sie brachte dazu ihr eigenes Produzenten- und Musikerteam mit.«

Tom Norris

Benjamin Rice stammt ursprünglich aus Texas. Seit seinem zwölften Lebensjahr spielt er Drums, Gitarre und Klavier. Schon ein Jahr später erwacht sein Interesse an der Musikproduktion. Mit 17 beginnt er einen Job bei Smart Production in Texarkana und wird bald vom dortigen Produzenten Greg White gefördert. Danach tourte er als Drummer der Band Pilotdrift jahrelang durch die USA. Nach einem kurzen Intermezzo beim Militär setzt Benjamin seine musikalische Karriere fort und studiert an der Full Sail University. Über Justin Biebers Engineer, Mixer und Produzenten Josh Gudwin erhält Benjamin schließlich eine Anstellung im legendären Record Plant Studio in L.A. Hier trifft er erstmalig Lady Gaga. Die darauffolgende Zusammenarbeit beschert ihm neben den Credits für die Albumproduktion von A Star Is Born auch einen Grammy in der Kategorie »Best Compilation Soundtrack For Visual Media«. Einen weiteren Grammy erhält Benjamin als Coproduzent von LGs berühmtem Duett Shallow mit Bradly Cooper.

Aufgrund seiner breit gefächerten Erfahrung konnte Benjamin die vielfältigen, ihm übertragenen Aufgaben bei sämtlichen LG-Produktionen meistern. Vor allem bei Chromatica zog Benjamin alle Register und entwickelte einen ebenso ungewöhnlichen wie komplexen Workflow für die Gesangsproduktion. Mit seinem Pro-Tools-Template hat er buchstäblich Hunderten von Vocal-Takes und Tracks zu perfekt produziertem Glanz verholfen.

»Ein wichtiger Ansatz für meine Arbeit mit LG und ganz besonders bei diesem Projekt ist, dass ich bei den Gesangsaufnahmen grundsätzlich nicht zwischen Writing-Vocals und finalen Vocals unterscheide. Jeder Vocal-Part, egal ob aus einer frühen Writing-Session oder vom letzten Aufnahmetag, hat das Zeug, zum Final-Take zu werden. Abhängig von der Produktion entwickelt LG ihre Stimme ständig weiter, und ich muss immer am Ball bleiben.

Unabhängig davon, ob wir ›from scratch‹ starten oder an einem schon existierenden Song weiterarbeiten wollen, beginne ich immer mit einem bestimmten Pro-Tools-Vocal-Mix-Template. Es liefert mir umgehend gut klingende Vocals mit tollen Effekten, was sich wiederum inspirierend auf LGs Performance auswirkt. Darüber hinaus kann ich damit die Aufnahmen effizient organisieren. Letztlich mache ich Vocal-Mixing on-the-fly.«

Benjamins Vocal-Recording-Anspruch und sein daraus resultierendes Setup bedarf näherer Erläuterung: »Den Ansatz, Vocals zunächst trocken und damit langweilig klingend aufzunehmen, um später am Sound zu arbeiten, mag ich nicht sehr. Warum damit Zeit verschwenden? Ich gestalte den Sound schon während der Aufnahme. Wir nehmen etwa Piano und ein paar Scratch-Vocals auf, um damit am Arrangement arbeiten zu können. Dann werden Piano und Vocals final aufgenommen. LGs Vocal-Signalkette ist über Jahre unverändert. Sie verwendet ihr eigenes Vintage Neumann U47. Das ist mittlerweile um die 60 Jahre alt und klingt großartig. Wir kennen den Sound genau, und sie liebt es. Es folgen ein Vintage Neve 1073 Micpre und ein Tube-Tech CL1B Kompressor. Danach geht es direkt in Pro Tools. Dieses Setup habe ich immer bei mir und kann damit im Studio, in ihrem Haus, im Tourbus oder sonstwo aufnehmen. Wenn für einen bestehenden Song die finalen Vokals eingesungen werden, bevorzuge ich üblicherweise eine professionelle Umgebung mit Gesangskabine und allem Drum und Dran. Wenn LG und ich dagegen mit einem neuen Song beginnen, schreiben und recorden wir gleichzeitig, und die Sache verhält sich etwas anders. Üblicherweise sind wir dann beide im Regieraum beieinander und nutzen Kopfhörer. Das macht die Kommunikation einfacher. Und bei Bedarf kann sie jederzeit in die Kabine gehen.

Benjamin Rice: »Bisweilen spiele ich auch gerne mit billigen Teilen herum. Der JST Finality Advanced ist ein sehr aggressiver Kompressor, der aber in einer soften Fünf-Prozent-Einstellung richtig gut klingen kann. Ebenfalls nützlich ist der Metric Halo Channel Strip [im Bild links zu sehen]. Und natürlich nutze ich eine Menge FabFilter-Zeug. Sie gehören definitiv zu den besten Plug-in-Herstellern überhaupt. Besonders gut sind Pro-Q3 und Pro MB.
In Sachen Hall nutze ich die East West Library. Auf das SoundToys-Delay lege ich gerne 5 bis 10 Prozent Valhalla-Reverb und verschiebe dabei dessen Pre-Delay so weit nach hinten, dass es deutlich verzögert einsetzt. Das lässt die Delays leicht verschwimmen und sorgt für schöne Atmosphären. Und natürlich nutze ich UADs LA2A und 1176 sehr oft. Von Letzterem mag ich alle Versionen.«
In meinem Template habe ich Lead-Vocal-Spuren und Lead-Vocal-Double-Spuren mit den jeweiligen Bussen angelegt. Dasselbe gibt es für Background-Vocals und Ad-Libs. Alle sind mit zahlreichen, einsatzbereiten Sends und Returns ausgestattet, die ich reindrehen kann, während LG singt. Sie liefern Plattenhall, Room- und Kirchenhall sowie Achtel- und Viertelnoten-Delays, mit und ohne Hall. Darüber hinaus kann ich punktierte Delays, Chorus und einiges mehr einsetzen. Wenn LG diese Effekte im Kopfhörer hat, kann sie darauf einsteigen.

LG singt meist einen Song von vorne bis hinten durch. Gelegentlich unterbricht sie, um Phrasen, Strophen oder Refrains einzusingen. All diese Takes organisiere ich auf einer Lead-Cut-Spur mit acht weiteren, darunter angeordneten Lead-Cut-Spuren. So schaffe ich Sektionen, in denen ich mich gut zurechtfinden kann, etwa wenn ich compe und eine Referenz brauche. Das ist viel übersichtlicher, als nur eine Spur mit 300 Takes zu haben. Anfänglich besteht die Vocal-Session aus vielleicht 60 bis 80 Spuren, inklusive Bussen und Organisation. Um die Session überschaubar zu halten, gibt es den Instrumentalteil hier nur als Stereospur.

Nach jedem Aufnahmetag gehe ich alle Takes durch, erstelle neue Compings und erzeuge eine Gesangsproduktion, die durchaus eine finale Version werden könnte. Ich verbringe Stunden damit, Ideen auszuarbeiten und zu perfektionieren, Ear-Candy zu erzeugen, und mache viele andere Dinge, um die Ästhetik der Vocals zu optimieren. Sobald ich überzeugt bin, die Comping-Segmente gut platziert zu haben, höre ich sie immer wieder und wieder als Loop. Dabei achte ich auf Details, die noch verbessert werden könnten. Wenn zeitlich möglich, arbeite ich an einer solchen Session über Wochen oder sogar Monate. Danach erzeuge ich Stems, um die Sache überschaubarer werden zu lassen und Neues hinzufügen zu können.«

Interessanterweise hat Benjamin an dieser Stelle noch längst nicht alle Vokalbearbeitungen abgeschlossen: »Nach dem Comping wende ich mich dem Timing und dem Ausdruck der Aufnahmen zu, optimiere Doppelungen und Harmonien und erzeuge schließlich ein Gesangs-Arrangement, das sich allerdings im Laufe der Zeit noch ändern kann. Bin ich auch hiermit zufrieden, schneide ich alle Vocal-Parts auf dieselbe Länge und exportiere sie. Dann lade ich sie zusammen mit einer Stereospur der Instrumente in eine Melodyne-Session.

Die Arbeit am Tuning ist für mich wie Fotobearbeitung: Das Foto ist schon wunderschön, es braucht nur noch ein paar Kleinigkeiten, um perfekt zu werden. In diesem Sinne verbessert das Benjamin Rice Tuning eine ohnehin schon großartige Vocal-Performance. Über das Tuning hinaus bearbeite ich mit Melodyne auch das Timing der Vocals, indem ich die Doppelungen und Harmonien an die Lead-Spur anpasse. Ich finde Melodyne visuell sehr ansprechend. In den Melodyne-Sessions arbeite ich ausschließlich mit den trockenen A-Capella-Vocals – Effekte bleiben hier außen vor. An dieser Stelle bearbeite ich auch Zischlaute und passe die Lautstärken der Comping-Segmente einander an. Danach exportiere und lade ich sämtliche Vocals zurück in die Song-Session, allerdings in eine neue Playlist derselben Spur, die die ursprünglichen Compings enthält. Nun kann ich verschiedenste Takes und Variationen, etwa vor und nach dem Tuning, direkt miteinander vergleichen. Danach kümmere ich mich wieder um die Effekte, also den Wet/Dry-Anteil, den Reverb-Sound usw. Dann folgt die Automatisierung.

Mittlerweile nähern wir uns der vorläufigen Fertigstellung der Vocals. Vorläufig deshalb, weil sich über einen Produktionszeitraum von zwei Jahren natürlich vieles ändern kann. Vielleicht möchte LG etwas neu einsingen. Dann wiederholt sich der gesamte Prozess entsprechend. Dabei behalte ich grundsätzlich alles zuvor erzeugte. Wird ein Song komplett umgestaltet, verwende ich möglicherweise eine neue Session, importiere jedoch alles bisher Dagewesene. So habe ich einerseits Referenzen und kann andererseits etwa alte Leads als Doppelungen von neuen Leads verwenden. Vorhandenes Material lässt sich somit weiter nutzen.

Letztlich ist jeder Song des Albums über einen Zeitraum von zwei Jahren entstanden. Das heißt, alle Songs bestehen aus mehreren Sessions. Mit nur einer einzigen Vocal-Session sämtliche Takes, Tempobearbeitungen und sonstige Änderungen zu handeln, wäre unmöglich gewesen. Die Session wäre einfach zu groß und zu unübersichtlich geworden. Somit teile ich das gesamte Projekt in verschiedene Sessions mit Vorproduktion, Songwriting, finaler Produktion, Mix-Stems, Arbeits-Sessions bis hin zu Sessions mit den Files, die schließlich verschickt werden sollen. In diesen zwei Jahren steckt eine Menge Organisationsarbeit!« Benjamins Produktion und Mix der Vocals sind fraglos sehr ambitioniert. Da liegt es nahe, für die finalen Mixe ebenfalls einen echten Spezialisten an Bord zu holen:

Tom Norris ist ein Grammy-nominierter Mixer und Produzent mit hohem Ansehen im Bereich EDM und Pop-Musik. Zu seinen Credits zählen u. a. Zedd und allen voran Skrillex.

»Schon in der Frühphase der Produktion wurde vereinbart, dass Tom und ich das Album mixen würden«, erinnert sich Benjamin. »LG war mit dem Vocal-Sound und meinem Mix sehr glücklich. Warum hätten wir also die Sessions aus den Händen geben sollen? BloodPop sprach sich eindeutig für Tom aus. Tom ist ein echter Experte in Sachen Dance-Music. Er hat ein großartiges Gespür für den Klang von Dance-Platten, sowohl für modernen Sound wie etwa Skrillex oder auch Retro-Sachen wie Euro-House. So wurde entschieden, dass ich den Gesang mixen würde und Tom die Musik.«

»Mit BloodPop bin ich seit einigen Jahren gut befreundet «, ergänzt Tom. »Irgendwann erzählte er mir, dass er an einem neuen Projekt mit LG arbeiten würde. Gelegentlich spielte er mir Demos davon vor. Im Januar 2019 fragte er mich, ob ich ein paar Statements zur Produktion eines Songs geben und vielleicht auch selbst Hand an ein paar Dinge legen wolle. Sechs Monate später sagte er mir, dass Ben die Vocal-Mixe machen würde. Er schlug mir vor, im Henson Studio die Tracks von ein paar Songs zu mischen. Schließlich verbrachte ich nahezu acht Monate im Henson und mischte fast alle Songs.

Im Henson war ich im Mix-Raum und Ben in Studio B. So befanden wir uns direkt Tür an Tür und konnten nach Belieben rübergehen und schauen, was der andere gerade trieb – das war eine echt nahtlose Zusammenarbeit. Ich erhielt die Stems von seinen Vocal-Mixen und die Instrumenten-Stems von den anderen Produzenten und machte damit meine Mixe. Dann gab ich Ben einen Stereo-Rough-Mix von den Instrumenten. Den lud er sich unter seine Vocals. Somit wusste er genau, wohin die Reise klanglich ging und konnte seine Gesangsproduktion entsprechend anpassen. Sowohl die Vocals als auch die Instrumenten-Parts wurden mehrfach geändert. Dann musste wieder ein Stück weit von vorne angefangen werden. Da wurde so einiges an Files hin und hergeschickt …«

Um zu verstehen, warum Tom Norris so perfekt in das Chromatica-Projekt hineinpasste, muss man seinen musikalischen Background ein wenig beleuchten. Aufgewachsen in San Diego, lernt er Klavier und Gitarre. Während der Highschool-Zeit spielt er in einer Band namens Allstars Weekend. Die Band hat zunehmend Erfolg. Als ihr jedoch ein vielversprechender Plattenvertrag angeboten wird, verlässt Tom überraschend Allstars Weekend. »Mir wurde das alles zu stressig«, erinnert sich Tom lachend. »Und das ständige Touren ist mir auf die Nerven gegangen. Meine Eltern sind Akademiker, also beschloss ich, ebenfalls die Universität zu besuchen, und ging nach Berkeley, um dort Sprachwissenschaften zu studieren. Etwa zur selben Zeit begann ich, mich mit der Musikproduktion am Rechner zu beschäftigen, zunächst hauptsächlich Sounddesign mit FL Studio auf einem PC. Bald lernte ich zu mixen und zu produzieren. Der erste, richtig prominente Song, an dem ich arbeitete, war von Hailee Steinfeld. Ich erinnere mich noch genau, wie ich meinen Gaming-PC mit FL im Westlake-Studio aufbaute – und ziemlich seltsam angesehen wurde … Ich bin dann bald auf Mac und Ableton Live umgestiegen. Versuchsweise arbeitete ich mich auch in Logic und Pro Tools ein. Somit komme ich mit den meisten DAWs gut klar. Erhalte ich eine Pro-Tools-Session, mixe ich in Pro Tools. Ich habe auch schon Mixe mit Presonus Studio One gemacht.«

Momentan unterhält Tom zwei Studios in LA, eines zu Hause, das andere in Skrillex’ Studio. »Beide sind weitgehend identisch ausgestattet: Mac Pro mit Ableton Live, UA Apollo X8 sowie Focal SM9 bei Skrillex und PMC Result 6 bei mir zu Hause. Die PMCs mag ich sehr. Es gibt auch ein paar Outboard-Teile, etwa einen Tube-Tech CL1B, einen Neve Micpre für Gitarren sowie einen Buzz Audio Essence Opto-Kompressor. Den verwende ich oft, weil er den sprichwörtlichen ›Glue‹ liefert. Mein SSL G-Bus-Kompressor war bei allen Chromatica-Songs im Einsatz. Da ich nichts sidechainen konnte, mussten die erwünschten Pump-Effekte mit einem VCA-Hardware-Kompressor erzeugt werden. Das funktioniert am besten. Somit habe ich Kicks und noch einiges mehr kräftig mit dem SSL bearbeitet.«

Spätestens in diesem Moment läuten sicher bei zahlreichen Lesern die Alarmglocken: Moment – ein EDMinspiriertes Album ohne Sidechain??? Tom lacht und erklärt: »Ich weiß! Zum EDM-Sound gehört unbedingt Sidechaining, ganz besonders mit super sauberen und tiefen Bässen. Für Chromatica wollten wir die Neunziger einfangen, und die Herausforderung dabei war, das so authentisch wie möglich zu machen. Soweit ich wusste, war Sidechaining zu dieser Zeit zwar möglich, aber noch recht umständlich zu realisieren. Burns und ich kamen zu dem Schluss, es einfach mal ohne Sidechain zu versuchen und zu schauen, was dabei passiert. Side-Chaining ist essenziell für moderne Aufnahmen. Es verdichtet den Sound, und du kannst bestimmte Dinge in bestimmten Momenten loswerden, ohne dabei Headroom zu verlieren. Natürlich lässt sich das auch mittels manueller Bearbeitung erreichen. Aber wir wollten keinen Fake-EDM-Sound, wir wollten es richtig retro klingen lassen, also 90er-Dance-Music in einem 2020er-Kontext.«

Toms Worte lassen den Schluss zu, dass sein Beitrag zu Chromatica deutlich mehr beinhaltete als »nur« den Mix zu erstellen oder gar nur den Rough-Mix etwas aufzupolieren. »Beim LG-Album hat mein Beitrag bis in die Produktion hinein gereicht,« erklärt Tom seine Rolle im Studio. »Die Leute lassen mich Dinge ausprobieren. Ich denke, man könnte mich als eine Art ›Finisher‹ sehen. Das ist die Funktion, die ich bei Produktionen mehr und mehr einnehme.«

Tom verdeutlicht seine Rolle als »Finisher«, indem er diesen Prozess am Beispiel von Rain On Me beschreibt: »In diesem Song steckt die meiste Arbeit. Im Gegensatz dazu hatte ich Love Me Right von der Deluxe-Version des Albums in 40 Minuten fertig. Rain On Me bestand dagegen eigentlich aus zwei unterschiedlichen Produktionen. Tchamid machte die erste, dann Burns. Seine Version war von französischen Projekten wie Cassius und Stardust beeinflusst und bekam den Zuschlag. Aber auch hier wurde schließlich noch eine Menge geändert. Die Entscheidungen hinsichtlich der passenden und besten Sounds traf ich gemeinsam mit Burns. Ich fügte Pianos und Subbässe aus Omnisphere hinzu. Man hatte zunächst zu wenig Bass bemängelt, ein generelles Problem bei Dance-Produktionen. Bestimmte Keyboards haben einfach nicht genug Low-End. Zudem ist der Song in Cis-Moll geschrieben, also zu tief für einen stimmigen House-Kontext. Die Frage war: Wie bekommen wir einen schönen Disco-Sound mit French-House-Touch und genügend Wumms? Mitte der Nuller-Jahre besorgte ich mir einen Alesis 3630, als ich hörte, dass ihn Daft Punk und ähnliche Acts für ihren pumpenden French-Sound verwendeten. One More Time nahm ich komplett auseinander, um herauszufinden, ob dessen Processing auch im Riff von Rain On Me funktionieren würde. Hat es letztlich nicht. Es half jedoch, diese Art Sound im Detail zu verstehen.

Alle haben etwas zu Rain On Me beigetragen. LG hat mehrfach Phrasen oder Song-Abschnitte geändert. Ben musste also immer wieder seinen Vocal-Mix überarbeiten und ich die geänderten Abschnitte einarbeiten. Max Martin lieferte einige Vorschläge für die finale Version. Wir arbeiteten an Rain On Me von November bis März.«

Toms finale Mix-Session von Rain On Me besteht aus nicht weniger als 157 äußerst übersichtlich organisierten Spuren (siehe Abbildung auf der rechten Seite). Von oben nach unten finden sich: Drums in Hellblau (1 bis 56, dazu ein Drum-Bus in Orange), Bässe in Braun (59 bis 71), Synths in Gelb (89 bis 96), Keyboards in blau (97 bis 124), Vocal-Effekte in Violett (125 bis 130), diverse zusätzliche Sounds in Grau (131 bis 142), Vocals und Vocal-Effekte in Pink (144 bis 169) sowie Vocal-Stems in Dunkelviolett (170 bis 177) und eine Master-Spur ganz unten. Jede dieser Gruppen verfügt über eine jeweils ganz oben gelegene Group-Bus-Spur. Tom geht im Folgenden auf einige wichtige Aspekte und Besonderheiten seiner Mix-Session näher ein.

»Manche Kollegen starten ihren Mix bei null. Sie ziehen zuerst die Kick auf, dann die Snare, die Vocals oder was auch immer. Ich höre dagegen üblicherweise von Beginn an gerne alles zusammen, um möglichst schnell ein Gefühl für die Balance des Songs zu bekommen. Mir scheint, dass die ersten 45 Minuten, in denen du dich mit einem neuen Song beschäftigst, die wichtigsten sind. Danach sinken zunehmend Objektivität und Urteilsvermögen. Deshalb konzentriere ich mich zuerst auf Pegeleinstellungen und nehme Effekte hinzu. Danach beschäftige ich mich mit einzelnen Spuren und Details. Ich höre Spuren nicht gerne solo. Die besten Resultate erziele ich, wenn alle Elemente gleichzeitig da sind. Bei diesem Song lief immer alles zugleich, auch wenn ich nur die Drums bearbeite habe. Ich war mir sicher, dass ein stimmiger Rhythmus den ganzen Song nach vorne bringen würde. Das Feeling der Hi-Hat ist ein extrem wichtiges Element in der House-Music und muss deshalb unbedingt stimmig sein.

Der Pegelabgleich war die Hauptarbeit bei den Drums. Der obere Drum-Bus wurde mit folgenden Plug-ins ausgestattet: Alliance Black Box, Slate Digital FG-X, Oeksound Spliff Transient Shaper sowie der tolle Ableton EQ8. Da Letzterer die CPU nur sehr wenig belastet, schalte ich ihn auf Oversampling. Das entspricht dann einem Linear-Phase-Modus. Im unteren Drum-Bus befanden sich ein UAD A/DA Flanger und einige Filter. Ich mag Abletons Effekt-Racks sehr. Die machen den Umgang mit Effektketten wirklich einfach. Die Audio-Effekt-Racks zählen für mich zu Abletons wichtigsten Mix-Features.

Bei der Arbeit an der Bass-Sektion galt es herauszufinden, wie man dem Song zu mehr Fundament verhelfen könnte. In den Strophen gibt es Bass und Subbass. Der Song besteht zu großen Teilen aus echten Instrumenten, die mit Synths kombiniert sind. Ich verwendete Serum, eine 808 und ein paar Subass-Sachen. Burns hat die Bassgitarre eingespielt. Außerdem gibt es echte Gitarren, darunter auch ein paar etwas irre klingende Spuren. Bei den Bässen sorgen ein FabFilter Pro-Q3 und ein Kush Audio AR1 Vintage Mu Kompressor für Low-End bei 73 Hz. Die Gitarren habe ich mit einem Haas-Delay-Plug-in breiter gemacht. Im Drop sind ein paar tiefe Frequenzen weggenommen und der FabFilter Pro-MB darauf gesetzt.

Mit den Synths habe ich nicht viel gemacht. Ein XFER DJM Filter steigt ein, wenn im Pre-Chorus die Drums gefiltert werden. Außerdem habe ich im Henson Studio zwei Plug-ins selbst programmiert, um wieder in C++ hineinzufinden. Das sind mein De-Esser namens ›Freshest Air Brightener‹ und der Brightener EQ. Letzterer hat sich sehr gut geeignet, um die etwas dunkle Klangcharakteristik der Stems aufzufrischen.

Auf den Keyboards befindet sich ebenfalls der Brightener. Das Omnisphere-Piano im Drop ist zudem mit FabFilter Pro-MB und Waves RVox ausgestattet. Auf den hohen Streichern sitzt ein Waves CLA Vocals mit Chorus/Doubling-Effekt. Bei den Vocal-Effekten habe ich die Frequenzen und Resonanzen recht breitbandig mit Ableton aufgeräumt. Darüber hinaus sind nur wenige Plug-ins verwendet, etwa das Oeksound Soothe und der SoundToys Microshift, um den Sound etwas breiter zu machen. Für die Vocals brauchte ich nicht viel tun. Ben hat da eine Menge Arbeit investiert, und sie klangen super. Es gab nur ein paar kleine Pegelkorrekturen, weil seine Vocals etwas anders auf meinen Bus-Kompressor reagierten. Da ich den Mix leicht aufgehellt hatte, bekamen Ariannas Vocals einen De-Esser.

Ich denke, die Plug-in-Ketten im Master und im Instrumenten-Bus schweißen den Sound so richtig zusammen. Für den besonderen Sound der Instrumente nahm ich den UAD SSL G Channel, Freshest Air, EQ Eight, DJM Filter sowie XFER OTT und noch einiges mehr. Im Master-Bus verwendete ich eine Effektkette, der ich die Bezeichnung ›Master Volume Ride‹ gegeben habe. Die Macros sind ein weiteres tolles Feature in Abletons Effekt-Racks. Du hast die Möglichkeit, Regelbereiche nach Belieben anzupassen. So kann ich großzügige Automationskurven zeichnen, die Parameter verändern sich jedoch nur um Dezibel-Bruchteile. Der Master-Bus durchläuft dann noch den Hardware-G-Bus-Kompressor für den berühmten 90er-Pump-Effekt.«

Die Spuren-Übersicht von Rain On Me

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