To DSP or not to DSP?

Avid Pro Tools Carbon – Audio-Interface im Test

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(Bild: Avid)

Die Erfolgsgeschichte von Pro Tools, in den 90er-Jahren noch vom Hersteller Digi-Design vorangetrieben, begann primär durch die Entwicklung von DSPs, welche die damals noch schwachen, rechnergestützten DAW-Systeme entlasten sollten.

Im Jahr 2020 ist das Aufnehmen und Mischen einer Unmenge von Audiospuren selbst auf Laptops kein Problem mehr. Doch ein Problem ist teilweise immer noch relevant: Latenz. Mit Carbon will Avid diesem Spaßverderber nun den Kampf ansagen.

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Hardware

Carbon geht im klassischen 19-Zoll-Rackformat mit 1 HE an den Start. Das Gewicht von über 5 kg ist nicht zuletzt dem robust verschraubten Aluminiumgehäuse geschuldet. Acht XLR-Buchsen des Herstellers Amphenol, welche als Mic/Line-Eingänge dienen, zieren die Rückseite. Die Buchsen 5–8 sind mit dem Zusatz »Variable Z« versehen –dazu später mehr. Je ein DB25-Port für acht Line-Outputs und acht Line-Inputs, inklusive »true preamp bypass« sind mittig eingebaut. Für den Anschluss der Hauptabhöre sind zwei symmetrische Klinkenbuchsen vorgesehen. Des Weiteren verfügt das Gerät über je zwei Ein- und Ausgänge für ADAT-Übertragungen. Auch ein BNC- und Ethernet-Duo ist an Bord. Die Stromversorgung des internen Netzteils erfolgt über das mitgelieferte IEC-Kabel.

Auf der Rückseite wird nahezu jeder Quadratzentimeter für Anschlüsse genutzt. (Bild: Avid)

Das Design der Front ähnelt ziemlich dem Interface »MTRX Studio«. Auf der linken Seite sind zwei Klinkenbuchsen als Instrumenteneingänge eingelassen. Die kleine Bohrung in direkter Nähe dient nicht dem Rücksetzen zur Werkseinstellung, sondern entpuppt sich als internes Talkback-Mikrofon. Die rechte Seite hingegen verfügt nun sogar über vier Kopfhörer-Ausgänge. Insgesamt hat Avid neben dem Power-Schalter 15 verschiedene Taster für die Eingangs-, Ausgangs- und Monitoring-Sektion eingebaut. Die runden Buttons sind zum großen Teil mit farbigen LEDs hinterlegt, um den jeweiligen Betriebszustand besser zu verdeutlichen.

Hinsichtlich Metering ist auf der Front einiges geboten. Für die acht Eingänge sowie die Stereo-Summe sind großzügig angelegte Bargraphen mit je neun LED-Segmenten integriert. Für die Pegelkontrolle am aktuell selektierten Eingang oder Ausgang sind zwei horizontale LED-Streifen mit 13 Segmenten vorgesehen. Diese spiegeln jeweils die Einstellung des darunter aufgesteckten Push-Encoders wider.

Insgesamt befinden sich acht HDX-DSPs (2,8 GHz) auf der Platine. Auch das Lüftungssystem ist hier gut zu sehen. (Bild: Avid)

Setup

Es scheint so, als hätte sich Avid von Schnittstellen wie USB oder Thunderbolt gänzlich verabschiedet. Schon beim S3-System realisierte man den Datenverkehr über Ethernet-Ports, die das Protokoll »AVB«, genauer »Audio Video Bridging«, verwendeten. Auch bei Carbon sieht das ganz ähnlich aus.

AVB ist im Audiobereich jedoch nichts Neues. Im Interface-Segment spielen etwa MOTU, RME und PreSonus ebenso vorne mit, und Hersteller wie Meyer Sound verlassen sich hinsichtlich ihrer Lautsprechersysteme auf diese Medienvernetzung. Zwischen Avid und Apple herrscht jedenfalls rege Zusammenarbeit, die eine Optimierung dieser digitalen Kommunikationsform zum Ziel hat. Im »Audio-MIDI-Setup« erscheinen gleich zwei Instanzen von Carbon: eine nur für Pro Tools, die andere für alle traditionellen Core-Audio-Applikationen.

Gegenwärtig ist Carbon nur auf dem Mac ausschließlich mit Betriebssystem »Catalina« (macOS 10.15.6) zu gebrauchen – darunter funktioniert rein gar nichts. Ebenso gibt es noch keinen offiziellen Support für »Big Sur«, Apples neuste Systemerrungenschaft. Da somit auch ein neueres MacBook erforderlich ist, muss man irgendwie von Thunderbolt 3 (USB-C) zu Ethernet konvertieren. Wir haben eine Vielzahl von Adaptern getestet, allerdings erscheint das Häkchen »AVB/EAV-Modus« im Tab »Hardware« der Netzwerk-Einstellungen erst, wenn tatsächlich die von Apple zertifizierten Adapter aufstecken. Wer also ein Mac-System ohne Ethernet-Port besitzt, sollte hier noch mal eine weitere Investition mit einplanen.

Die Bedienung ist momentan »nur« über das Frontpanel möglich. Dass Avid aber auch Apps vernünftig konzipieren kann, haben wir jüngst schon beim hauseigenen DAW-Controller »S1« gesehen. Vielleicht kann sich Avid dann gleich etwas einfallen lassen, wie man den globalen Status – primär eine Übersicht von Phantompower, Phasenumkehr oder Gain – auf eine GUI bekommt; die Eucon-Unterstützung ist jedenfalls in Planung.

Wie wir bereits beim Betrachten der Rückseite gesehen haben, verfügen die Mikrofoneingänge 5–8 über eine variable Impedanz. Leuchtet der »Z«-Button während der Selektion eines dieser Eingänge weiß, besitzt die Impedanz den Standardwert von 5 Kiloohm. Bei der Farbe Cyan hingegen beträgt die Impedanz 50 Kiloohm und bei Fuchsia 1 Kiloohm. Für die Instrumenten-Eingänge (1–2) gibt es sogar fünf Werte zur Auswahl: 1 Megaohm (Standard) sowie 230, 90, 70 und 32 Kiloohm. Besonders bei passiven Tonabnehmern von Gitarren und E-Bässen kann diese Schaltung deutliche Klangunterschiede hervorbringen. Es lohnt sich auf jeden Fall, vor der Aufnahme damit zu experimentieren.

Unter dem »Z«-Button befindet sich der Talkback-Buttton. Ein kurzer Druck aktiviert den Signalweg solange, bis erneut gedrückt wird. Hält man den Button hingegen länger, ist ein temporärer Einsatz der Sprechanlage möglich. Alternativ kann man einen Footswitch an die gleichnamige Buchse auf der Rückseite anschließen und damit das Talkback an- und ausschalten.

Das Audio-MIDI-Setup zeigt gleich zwei Carbon-Instanzen an.
Eine neue Schaltfläche gibt an, wie der entsprechende Kanalzug mit dem DSPMode umgehen soll.
Im Hardware-Setup: Der Stereo-Ausgang »Main« ist fix mit dem Klinkenpärchen verbunden. Aktiviert man noch die Monitore »Alt 1« und »Alt 2«, werden die Line-Ausgänge »1-2« und »3-4« des DB25- Ports verwendet. Damit können bis zu drei Speaker-Sets mit den Schaltflächen »A/B/C« an der Hardware gewechselt werden. Den vier Kopfhörerausgängen kann man je einen eigenen Bus oder den Mix »Mon L-R« zuweisen.

In Pro Tools

Das Highlight von Carbon ist selbstverständlich die sogenannte »Hybrid Engine«. Dieses Konzept zielt auf möglichst latenzfreies Monitoring ab, erst recht, wenn Plug-ins im AAX-Format die Arbeit übernehmen sollen. Pro Tools Ultimate 2020.11 ist dafür gerüstet.

Jeder Kanalzug kann in verschiedene Modi umgeschaltet werden. Dies geschieht mithilfe des neuen »Blitz«-Symbols, welches im Mixer zwischen Automationsmodus und Gruppenzuweisung seinen Platz findet. Insgesamt visualisiert die Schaltfläche vier verschiedene Zustände: in Grau der »Native Mode«, in Hellgrün hingegen der »DSP Mode« – hier läuft die Bearbeitung des Audiomaterials rein über die Chips in Carbon.

Per [CMD]+Klick lässt sich der Kanalzug auch in den Modus »DSP Mode Safe«, konzeptionell vergleichbar mit »Solo Safe«, versetzen – das Symbol wird hier durchgestrichen. Dies ist in manchen Situationen praktisch, etwa um die DSPs von Aux-Tracks mit Room- oder Reverb-Effekten zu entlasten, welche mit ein paar Millisekunden Versatz immer noch ihren Zweck erfüllen. Ebenso kann man so Kanalzüge zur Kommunikation, wie Talkback beispielsweise, dauerhaft vom DSP-Einsatz fernhalten.

Dunkelgrün erscheint die Schaltfläche hingegen, wenn »DSP Mode Auto« aktiv ist, also wenn der Signalweg etwa über einen Aux-Track als Subgruppe oder Cue-Mix führt.

Avid gibt bezüglich der Latenz einen Wert von unter 1 ms an – und diese Verbesserung ist deutlich hörbar! Es ist schon ein ziemliches Aha-Erlebnis, wenn man den DSP-Modus deaktiviert, während man ein Mikrofon bespricht und über den Kopfhörer beurteilt. Ohne den DSP verschmiert das Klangbild, es stellen sich Kammfilter, vielleicht sogar so etwas wie ein Stereo-Chorus ein – und das schon bei einer Puffergröße von 32 Samples. Spätestens bei einem Puffer von 128 Samples wird wirklich jeder einen markanten Unterschied wahrnehmen. Ein Klick auf den DSP-Button, und die eigene Stimme rutscht wieder zurück »zwischen die Ohren«. Großartig!

Bisher löste man derartige Probleme meist per »Direct Monitoring« im Interface oder einem vorgeschalteten Analog-Mischpult. Dann muss man natürlich auf das DAW-Processing, z. B. Equalizer und Kompression, verzichten. Mit Carbon kann die interne Klangbearbeitung schon während der Performance berücksichtigt und von allen Musikern genossen werden, was für einen besseren Vibe und wiederum für ein besseres Endergebnis sorgt.

Übertreiben sollte man es dennoch nicht mit den Prozessoren. Zum Beispiel ist mit einem »Fairchild 660« und einem »Pultec EQH-2« noch alles in Ordnung. Kommt man aber auf die Idee, sehr leistungshungrige Plug-ins, im Extremfall »Maxim« mit einer Latenz von 1.034 Samples einzubinden, hört man auch im DSP-Mode die Kammfilter zurückkommen. Die DSPs »schützen« also erstklassig vor systembedingter Latenz des Computersystems, reduzieren aber nicht die Zeit, welche ein Plug-in selbst zur Klangbearbeitung benötigt.

Was passiert aber mit nativen Plug-ins, wenn der Blitz auf Grün umschaltet? Sofern eine äquivalente DSP-Version verfügbar ist, wird die Instanz nahtlos ausgetauscht. Falls nicht, schaltet das Plug-in automatisch in den Bypass-Modus. Toll gelöst!

Fazit

Preislich liegt das Avid Carbon Audio-Interface immer noch in der Oberliga, was aber aufgrund der leistungsstarken DSPs und der hochqualitativen Wandler schon einigermaßen gerechtfertigt ist. Mit dem Konzept von »Variable Z« und dem flexiblen I/O sammelt Carbon ebenso Punkte. Die »Hybrid Engine« eignet sich hervorragend, um nahezu latenzfrei aufzunehmen bzw. abzuhören, sobald AAX-Plug-ins im Spiel sind. Gerade für Multitrack-Recordings von Bands könnte dieses System eine gute Alternative zu »analogen« Kopfhörer-Mixes darstellen.

(Bild: Avid)

Hersteller: Avid
Straßenpreis: ca. 4.100,– Euro

Internet: avid.com

Unsere Meinung:
+++ hochwertige Verarbeitung
+++ cleveres Hybrid-Konzept
+++ flexibles I/O
– – gegenwärtig nur Catalina-Support
– momentan keine Windows-Unterstützung

 

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