Studiotipps: Kniffe, die die Welt verbessern

Die Obertöne erstrahlten in seidigem Glanz

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Es gibt im Audiobereich einen Mythos, der sich durch viele Werbetexte und Erfahrungsberichte zieht: das heilige Originalsignal! Bei einigen Werbetexten bleibt es lediglich „absolut unverändert und intakt“, bei anderen wird es „definierter“, und wieder andere Features führen sogar dazu, dass es beinahe „greifbar und präsent“ wird. Klänge zu beschreiben, ist immer ein schwierige Aufgabe, denn oft versuchen wir, unsere Ersteindrücke mit Assoziationen aus ganz anderen Bereichen zu beschreiben. Wir scheitern kläglich, denn Begriffe wie „warm“ oder „kalt“ sind höchst individuell und unpräzise, sofern man sie auf Klänge überträgt.

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Und wenn die Höhen nun alle schon so seidig leuchten, dann passt das ja wundervoll zu Weihnachten! Und spritzige Details im Stereobild wären auch eine ideale Kombination für Silvester! Ein fundierter Bassbereich sorgt noch einmal genau wofür …? Wenn ich eine akustische Gitarre aufnehme, kann ein kräftiger Bassbereich dazu führen, dass die gezupfte Gitarre hinterher eher einem einstimmigen Cembalo ähnelt … Wollen wir das überhaupt? Was genau ist denn eigentlich ein Originalsignal?

Mythos und Geschichte

Vor langer Zeit, als Klänge sich ausschließlich über analoge Kabelstrippen und Mikrofone auf unsere Bandmaschinen quälten, gab es viele Gründe, warum ein möglichst authentisches Signal begehrenswert war. Jeder Kopiervorgang erhöhte das Rauschen, saubere Kanaltrennung war ein heißes Thema, und selbst eine Synchronisation zwischen MIDI-Sequenzer und Bandmaschine war aufwendig. SMPTE-Code auf der falschen Spur war laut und böse … Denoiser und Rauschunterdrückungssysteme gehörten zur Grund- und Pflichtausstattung eines jeden Tonstudios! Eine gezupfte Akustikgitarre rauschte in der leisen SoloPassage.

Ein Segen, wenn man einen guten Denoiser hatte: Mit dem Teil konnte man die Höhen − und damit oft auch den störenden Teil der Nebengeräusche − dynamisch wegschneiden und dann mit einem nachgeschalteten Exciter und dem EQ am Pult das Ganze wieder aufbrezeln. Originalsignal? Pah, es waren am Ende alle froh, dass der beste Take so gut gespielt war und dass wir genau diese Aufnahme mit der ganzen Technik brauchbar aufs Band und in den Mix bekamen! Hard-Disk-Recording war dann der Start in eine neue Ära − endlich Signaltrennung und Kopieren ohne Verlust. Egal, wie viel Einbußen das Signal beim Digitalisieren der ersten mittelmäßigen Wandlern erlitt − das bekam man mit der ganzen restlichen Technik schon irgendwie in den Griff. Und kurze Zeit später gab es dann ja auch A/D-Wandler, bei denen man sich eher über Klangnuancen stritt.

Eine zu niedrige Bit-Tiefe beim Mix-Bus der ersten digitalen Systeme oder beim ungenauen Einpegeln von Plugins − solche Probleme gibt es nicht mal in der Audiosoftware, die einer USB-Soundkarte heute kostenlos beiliegt! Damals war es eine Besonderheit, wenn man das vorhandene Signal möglichst hochwertig irgendwo aufzeichnen und wiedergeben konnte. Es gab früher eh kein „heiliges“ Originalsignal, aber es war das, was sich alle gewünscht haben! Jede Aufnahme war im Grunde bearbeitet, die ganzen Erfindungen von Gates, Kompressoren und EQs hatten ihre Ursache ja darin, dass man ein problematisches Signal irgendwie besser aufnehmen und mischen wollte!

Die Wahrheit

Wenn ich mir heute ein besseres USB-Interface an den PC hänge, dann nimmt es Signale in einer Qualität auf, die damals unglaublich gewesen wäre. Vielleicht mag es schockierend sein, aber ich habe mir irgendwann eingestehen müssen, dass ich technisch längst da bin, wo ich früher im großen Studio mit jeder Menge Technik nicht war. Rein theoretisch könnte ich heute mit vergleichsweise wenig Aufwand einen akustischen Leckerbissen nach dem anderen produzieren − ich kann’s halt nur oft nicht! Das ist eine vielleicht schmerzliche Erkenntnis, denn vor vielen Jahren konnten wir ja immer die mangelhafte Technik als Ursache vorschieben! Heute kommt das Signal so sauber in den Rechner, wie es damals nur im High-End-Studio möglich war. Selbst wenn wir mal ein Signal nicht korrekt einpegeln, können wir die Spur später digital lauter machen und haben immer noch ein absolut brauchbares Signal ohne digitale Auflösungsprobleme oder hohes Rauschen.

Eine Abbildung der Realität

Gerade zur Weihnachtszeit sind Choraufnahmen und Orchesterproduktionen ja immer recht angesagt. Das Notebook läuft, Preamps und Wandler machen genau das, was sie tun sollen, kein Mikro rauscht, und kein Kanal macht von sich aus Probleme. Aber es sind ganz andere „Kleinigkeiten“, die wichtig sind: Die Bläser sind wieder mal zu laut, die hohe Flöte nervt auf dem Mikro der Geigen, und die Pauken klingen durch die nahe Mikrofonierung irgendwie unnatürlich. „Ach egal, das mache ich später im Mix. Und die Flöte spielt ja zum Glück nicht die ganze Zeit …“ Später, wenn ich die Aufnahme mischen werde, dann hat sich aus dem ganzen Werbebrei von High-End bis 96 kHz in meinem Kopf eine Illusion gebildet, dass das, was ich da vor Ort eingefangen habe, ansatzweise authentisch und eine genaue Abbildung der Realität ist.

Das hätte ich früher nicht gedacht, denn schon das Rauschen der Aufnahme hätte mich auf den Boden der Realität zurückgeholt! Darf man bei solchen Aufnahmen ein Gate auf die Pauken legen? Einen künstlichen Hall auf die Drums? Einen Kompressor auf die Geigen? Die Pauken müsste ich frequenztechnisch komplett verbiegen − aber was unterm Kopfhörer noch ging, ist auf den Studiomonitoren der Horror schlechthin. Aber darf man das überhaupt mit einem Plugin-EQ? Und welchen nehm ich denn da? „Bestimmt brauche ich nur andere Mikros. Oder andere Vorverstärker. Oder andere Wandler. Dann wäre das alles automatisch richtig. Dann wäre das Signal heilig“, so tönt es in meinem Kopf, befeuert durch Werbesprüche, Aussagen angeblicher Tonstudiolegenden und durch Experten aus diversen Internet-Foren.

Widerspruch

Auf der einen Seite streben wir nach einem möglichst unbearbeiteten Signal, in der Hoffnung, dass es dann automatisch so klingen möge, wie wir das Klangbild empfinden. Wir vermuten, dass dem Signal eine verborgene Qualität innewohnt, und dass es nur besonders hochwertiger und meist just in dem Moment abwesender Gerätschaften bedarf, um diese Qualität auch nach vorne zu holen. Andererseits hat man früher in den Zeiten, wo angeblich doch alles so viel besser war, aus der Not heraus die meisten Signale bearbeiten müssen! Die digitale Qualität, die wir früher gesucht haben, gibt es heute automatisch, und die Bearbeitungen, die wir früher immer gemacht haben, lassen wir heute oft sein, weil wir glauben, dem Signal damit zu schaden. Der Witz ist aber, dass manchmal genau durch diese Kniffe erst die Qualität entstand, die wir heute vermissen!

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Soundtoys Radiator zaubert aus einem sauberen Signal ein verrauschtes Vintage-Klangbild. Mit der Eingangsverzerrung lässt sich ein Bass-Signal passgenau verdrecken. Waves Renaissance Bass formt dann ein solides Tiefbass-Fundament, sodass der Sound auch mit Lo-Cuts im EQ nicht im Mix untergeht.

Solides Bassfundament

Ein Trick, den ich heute manchmal für Bass-Spuren verwende, ist eine Kombination aus Soundtoys Radiator und Waves Renaissance Bass (siehe Abbildung 01). Mit dem Radiator hebe ich den Bassbereich an, gleichzeitig übersteuere ich den virtuellen Eingang des Plugins. RBass sorgt für zusätzlichen Bassanteil, und danach schneide ich mit einem beliebigen EQ den Tiefbassbereich weg. Um das Verhältnis zwischen Sustain-Phase und Attack etwas gleichmäßiger zu formen, benutze ich abschließend einen Kompressor, wie etwa Softubes TLA-100A, aber den dann komplett ohne Sättigung. Eigentlich alles falsch gemacht: Authentisch ist sicher anders, und wenn man RBass benötigt, um die Spur anzudicken, dann hat man den Bass doch eh falsch aufgenommen, oder?

Früher im analogen Zeitalter hatte ich beispielsweise einen Kompressor, einen Bellari RP583, durch den ich beinahe jede Bassspur übersteuert gejagt habe. Als Universal-Kompressor für alles war der zu unflexibel, aber er machte ungefähr das, was die obige Schaltung auch macht: Der Tiefbassanteil ist danach relativ gleichmäßig, die Sustain-Phase bei kurzen Noten gut zu hören, und irgendwie klingt der Sound dadurch voller und voluminöser, als er im Original klang. Das mag der falsche Einsatzbereich und vielleicht eine Zweckentfremdung des Kompressors sein − aber das Ergebnis klang einfach spitze!

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Legenden von 1978 und 1982 wie etwa Eventides SP2016 oder Lexicons 224 sind vielleicht nicht so authentisch wie ein gut gesampleter Faltungshall, aber wer jemals eines der beiden Geräte benutzt hat, wird schnell die Mix-Qualitäten der beiden zu schätzen wissen! Selbst als VST-Plugin auch heute noch ein guter Tipp.

Authentischer Hall

Faltungshall ist eine Möglichkeit, einen authentischen Sound in den Mix zu bekommen. Die Nachhallphase klingt damit so echt wie beinahe niemals vorher. Keine unnatürlichen Erstreflexionen, keine seltsame Verschiebung zwischen Hall-Anteil und wahrgenommener Raumposition. Selbst die Hallfahne war perfekt und frei von Artefakten! Trotzdem sind die alten Hall-Kisten von früher nach wie vor beliebt, und ich mag als Plugin beispielsweise Eventides Reverb 2016 und Native Instruments RC 24 im Mix sehr gerne (siehe Abb. 02). Eigentlich machen die alles falsch − die klingen überhaupt nicht „realistisch“. Mischt man viele recht ähnliche Klänge, ist es bisweilen schwer, eine gute Tiefenstaffelung in einem Mix zu erzeugen. Selbst wenn ein Hall dann eine schöne Hallfahne und aufwendige Erstreflexionen simuliert, sagt das noch nichts darüber aus, ob mit vielen Sounds gemischt am Ende ein Eindruck von räumlicher Tiefe entsteht. Eventides Reverb 2016 kann genau das − und zwar sehr einfach! Auch Valhallas VintageVerb oder das offizielle Lexicon 224-Plugin für die Universal Audio Plattform sind dafür beliebt.

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Das dezente Übersteuern von Bussen sorgt dafür, dass Lautstärke-Peaks ähnlich wie bei superschnellen Kompressoren abgefangen werden, bleibt aber wie früher am großen Mischpult meist unhörbar. Mit SDRR oder IVGI von www.klanghelm.com kannst du das direkt am Rechner ausprobieren!

Fazit

Vielleicht gibt es irgendwo da draußen eine Software, die heiligen Obertönen seidigen Glanz verleiht, und bei der man einfach nur etwas aufnimmt, und schon klingt es perfekt. Gerade jetzt nach der Weihnachtszeit ist das eine schöne Vorstellung! Bis dahin müssen wir uns wahrscheinlich der unbequemen Wahrheit stellen, dass es oft nicht um die Bewahrung eines Originalsounds geht. Jede Aufnahme ist bereits eine Bearbeitung, und nur unsere Vision führt letztlich dazu, dass auch andere Menschen den Sound so wahrnehmen, wie wir ihn präsentieren wollen. Guten Sound gibt es nicht für 100 Euro − aber auch nicht für 100.000 Euro! Es kostet Erfahrung und Wissen, und für manchen von uns mag da die Investition in legendäre Hardware ein Schritt in diese Richtung sein. Aber auch mit Plugins klappt das − auch wenn die Wege vielleicht ein wenig anders sind. Ich wünsche viel Spaß beim Bearbeiten und Zerstören von „authentischen Originalsignalen“!

Kommentare zu diesem Artikel

  1. Wer’s bezweifelt, stelle sich bitte die Schwarze Platte von Metallica mit einem natürlich klingenden Drumset vor.

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  1. Der Sound von Roxette › SOUND & RECORDING

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