The Magic Whip

Stephen Sedgwick & Stephen Street produzieren Blur

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Eine Band zu gründen, macht Spaß; sich irgendwann wieder zu trennen, weniger. Ganz schwierig wird’s, wenn man später versucht, nochmal zusammenzukommen. Kaum sitzt man beisammen, schon fliegen die Fetzen, doch man rauft sich für ein paar Live-Auftritte zusammen, um die Kasse aufzubessern. So ähnlich lief es auch bei Blur seit der offiziellen Reunion 2008 − bis dieses Jahr ein neues Studioalbum erschien, das Fans und Kritiker in Erstaunen versetzt: Die alte Magie ist zurück!

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(Bild: Dan Massie)

Einfach war’s sicher nicht. Ganze drei Singles hatte die Band seit ihrer Reunion veröffentlicht. Der erste Anlauf, ein neues Album aufzunehmen, scheiterte, obwohl man dazu William Orbit verpflichtete, der bereits 13 (1999) und Think Tank (2003) betreut hatte. Doch dann kam im Februar 2015 die Ankündigung, dass Blur nach zwölf Jahren Pause ein neues Studioalbum veröffentlichen werden: The Magic Whip. Zudem ist es das erste Album seit 13, bei dem Blurs ursprünglicher Gitarrist Graham Coxon wieder (richtig) mit dabei ist; ebenfalls zurück ist Stephen Street, der die klassischen Blur-Alben Mitte der 90er produzierte, darunter Modern Life is Rubbish (1993), Parklife (1994), The Great Escape (1995) und Blur (1997).

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Die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte von The Magic Whip begann mit Jamsessions in einem Studio in Hong Kong, die später in eine neue Form gebracht wurden. Im Grunde war die Herangehensweise eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, denen jede Band gegenübersteht, die nach einer Reunion versucht, neues Material aufzunehmen. Im Fall von Blur hieß das, alle Außen stehenden und vor allem sich selbst glauben zu machen, es ginge bei den Hong-Kong-Sessions keineswegs darum, ein neues Album aufzunehmen. Oder, frei nach Douglas Adams: Der Trick bestand darin, kein neues Album aufzunehmen und dabei zu scheitern.

Strategie des heroischen Scheiterns

Niemand wüsste über diese Strategie des heroischen Scheiterns besser zu berichten als der Engineer und Mixer Stephen Sedgwick. Er saß bei den Hong-Kong-Sessions an den Reglern und war zusammen mit Street für die Abmischung von The Magic Whip verantwortlich. Er erinnert sich an die ersten Schritte, (k)ein neues Blur-Album aufzunehmen: „Im April 2013 war die Band bereits auf Tour, als ihr Auftritt in Tokyo gecancelt wurde. Das war auf dem Tourabschnitt von Hong Kong über Tokyo nach Djakarta. Nun hatten sie also fünf oder sechs Tage frei, die sie dazu nutzen wollten, in ein Studio zu gehen, um Musik zu machen.

Also habe ich für sie nach Studios in Hong Kong gesucht, und die Avon Studios schienen die beste Option zu sein. Am liebsten arbeitete ich an einem großen Analogpult − im Studio 13 haben wir ein Neve VR72 − und obwohl das Avon einen Mix-Room mit einem Neve VR hat, wählte ich dort einen anderen Raum mit einem SSL J-Series-Pult, weil der einen Aufnahmeraum hatte sowie eine recht große Tonregie, sodass alle gemeinsam darin spielen konnten, wenn sie das wollten.“

Als Sedgwick im Mai nach Hong Kong flog, hatte er immer noch keine Ahnung, was die Band vorhatte. „Es gab kein konkretes Ziel, sondern sie wollten einfach nur in ein Studio gehen, wenn sie schon mal gemeinsam in Hong Kong waren, und schauen, was passiert. In den Jahren zuvor, 2010 und 2012, war die Band ein paar Mal ins Studio 13 gekommen, um drei Singles aufzunehmen, und jedes Mal gab es eine klare Absprache und einen Zeitplan, um die Aufnahmen fertigzustellen. Aber in Hong Kong gab es keinerlei Druck, mit irgendwas Fertigem das Studio zu verlassen. Und ohne den Druck und der Aufregung um ein mögliches neues Blur-Album, fiel es ihnen leichter, gemeinsam kreativ zu sein und Ideen festzuhalten.

Blur
(Bild: Tanyel Vahdettin)

Instant Session Recording

Die Folge war, dass sie einfach nur zusammen spielen und möglichst viele Ideen aufnehmen wollten, ohne sich das Ganze anschließend noch einmal anzuhören oder gar zu editieren, zusammenzuschneiden oder finale Strukturen zu erzeugen. Sie wollten den Ball rollen lassen und dabei alles in Pro Tools mitschneiden. Damon hatte einige Skizzen auf seinem iPad, die ihnen als Ausgangspunkt dienten. Sie sprachen darüber, und schon fingen sie an zu spielen und Sachen auszuprobieren, um etwas Cooles zusammen auf die Beine zu stellen. Statt aber eine Idee, die sie entwickelt hatten, zu Ende zu bringen, zogen sie es vor, gleich wieder an etwas Neuem zu arbeiten. Wir waren vier Tage dort und haben pro Tag an vier Songideen gearbeitet, sodass wir am Ende eine Menge Material hatten. Im Schnitt war jede Song-Session 30 bis 90 Minuten lang.“

Während die Band spielte, musste Sedgwick an seine Grenzen gehen, um sicherzustellen, dass wirklich alles aufgenommen wurde. Dabei gelang es ihm sogar, dem Material ein Mindestmaß an Struktur mitzugeben. „Da war eine Menge los; Damon konnte plötzlich von einem Keyboard zum nächsten wechseln, von daher war es ziemlich schwierig, den Überblick zu behalten und Acht zu geben, dass alles mit korrektem Pegel aufgenommen wurde und dass die Jungs einen guten Kopfhörermix hatten. Wenn ich mit Damon arbeite, nehme ich immer alles auf, auch wenn er schreibt. Ich weiß, dass er eventuell wieder auf etwas zurückkommen möchte, das er zuvor gemacht hat, daher füge ich, wann immer ich kann, Marker ein. Mir war wichtig, dass derjenige, wer auch immer später an diesen Sessions arbeitet, weiß, wie die Leute bei den Aufnahmen drauf waren.

Aus ähnlichen Gründen habe ich der Band einen Click gegeben, sobald sie einen Groove gefunden hatte, damit sie sich an einem Raster orientiert, was es später sehr erleichtert, an dem Material zu arbeiten. Obwohl wir uns selten noch einmal anhörten, was wir aufgenommen hatten, haben die Jungs an ein paar Stellen Overdubs aufgenommen. Graham hatte womöglich zwei Ideen für einen Abschnitt, an dem wir gearbeitet haben, und wollte auf den letzten Minuten, die wir aufgenommen hatten, ein Guitar-Overdub einspielen. Ähnlich auch bei Damon, der manchmal weitere Keyboards hinzufügte. Aber wir haben nie Halt gemacht, um ins Detail zu gehen oder uns die Sachen genau anzuhören und zu editieren oder so. Es ging einzig darum, den Ball laufen zu lassen. Während sie spielten, hat Damon einige Ideen für Gesangsmelodien und Guide-Vocals hinzugefügt. Die Stücke wurden aufgenommen, während sie geschrieben wurden.“

Bevor die Band ihre ungewöhnliche Mission begann, gab es ein paar Veränderungen im Recording-Setup. „Bevor wir ins Studio gingen, hatten sie davon gesprochen, dass sie gerne im Aufnahmeraum zusammen spielen möchten. Deshalb hatte ja auch das SSL- Studio ausgewählt. Als sie dann aber ankamen, entschied sich die Band, doch lieber im Control-Room zu arbeiten. Die Tonregie ist nicht besonders groß, aber es gab genug Raum für Damon mit seinen verschiedenen Synthesizern und für Alex [James, den Bassisten] und Graham. Dave [Rowntree] hat seine Drums im Aufnahmeraum aufgebaut, wo ich sie dann mikrofoniert habe.

Doch als sie anfingen, Ideen auszutauschen, fühlte sich Dave ein bisschen isoliert da draußen und wollte mit in den Control Room. Also hat er sich eine Kick, eine Snare und eine Hi-Hat geschnappt, die dort im Studio herumlagen, baute sie neben dem Pult auf und begann, mit der Band gemeinsam zu spielen. Als alle im selben Raum waren, war der Vibe einfach besser. Natürlich wurde das Aufnehmen mit Dave im Control-Room schwieriger, aber zu diesem Zeitpunkt dachten wir nur daran, Ideen zusammenzustellen, es ging uns nicht darum, finale Drum-Takes aufzunehmen. Also habe ich einfach ein Mikrofon als Overhead aufgestellt, ein Beyerdynamic M160 [Bändchen] und ein Shure SM91 [Grenzflächenmikrofon] in die Kick-Drum gelegt.

Ich ging ja davon aus, dass die Drums später noch einmal neu aufgenommen werden. Aber es stellte sich heraus, dass vielleicht die Hälfte dieser Schlagzeugaufnahmen es aufs Album geschafft haben, wobei später noch zusätzliche Drums- und Percussion-Overdubs aufgenommen wurden. Auf ein paar Songs hat Dave auch das Kit im Aufnahmeraum gespielt, beispielsweise die groß klingenden Drums auf Thought I Was A Spaceman. Da hatte ich ein Shure SM91 in der Kick und einen NS10- Speaker direkt davor, ein Shure SM57 an der Snare und ein weiteres darunter, an der HiHat war ein Mercenary Audio KM69 und Sennheiser MD-421-Mikros an den Toms.

Für Damons Gesang haben wir ein Neumann KMS 105 verwendet. Wegen seiner Supernierencharakteristik hat es nicht viel Schlagzeug mit aufgenommen. Für Grahams Vocals haben wir ein Beyerdynamic M88 genommen, das in Sachen Übersprechen ebenfalls gut ist. Grahams Gitarrenverstärker stand im Flur, damit wir den Sound nicht im Raum hatten, er war nämlich sehr laut. Den Verstärker habe ich mit einem Bändchen und einem dynamischen Mikrofon abgenommen, in diesem Fall ein Coles 4038 und ein weiteres M88. Auch Grahams und Damons Akustikgitarren habe ich mit dem M88 abgenommen, das etwas eleganter und heller klingt als etwa ein Shure SM57 oder SM58.

Der Einfachheit halber gingen alle Mikros direkt ins Pult. Alex hat seinen Bass über eine DI-Box ins Pult gespielt, und auch Damons Keyboards gingen per DI ins Pult. Er hatte einen Moog Little Phatty, einen Teenage Engineering OP1, einen Korg MS-10, ein Critter & Guitari Pocket Piano [ein lustiger kleiner Synthesizer], sein iPad, ein Omnichord sowie einen Maestro, ein alter russischer Synth. Während der Soviet-Ära war es nicht leicht, Synthesizer aus dem Westen zu importieren, also haben sie ihre eigenen gebaut. Sie haben einen richtig aggressiven, kalten Sound, den du von keinem anderen Synth bekommst.“

Vom Roh-Material zum Album

Obwohl noch keineswegs feststand, dass die Aufnahmen weiterverwendet würden, ging Sedgwick keine Risiken ein und kopierte das Material auf drei verschiedene Festplatten, die jeweils über verschiedene Wege nach England transportiert wurden. Tatsächlich sollte es über ein Jahr dauern, bis der Gitarrist Graham Coxon Interesse bekundete, sich das Material noch einmal vorzunehmen. Und zwar gemeinsam mit dem Produzenten Stephen Street, mit dem er an mehreren Solo – alben gearbeitet hatte. Albarn gab grünes Licht, und im Herbst 2014 begannen Street und Coxon, das Material unter die Lupe zu nehmen. Was zunächst wie eine Mammutaufgabe erschien.

Street erinnert sich in seinem Studio The Bunker im Süden Londons: „Als Graham mich kontaktierte, war ich hoch erfreut, womöglich an einem neuen Blur-Album beteiligt zu sein. Aber die Band und ihr Management waren sehr darauf bedacht, das Projekt möglichst diskret zu behandeln. Denn zu diesem Zeitpunkt hatten wir lediglich das Go, das Material zu sichten und damit zu arbeiten. Es gab noch keinerlei Commitment, daraus ein richtiges Album zu machen. Als ersten Schritt, sagte ich zu Graham, wollte ich eine Woche, um einfach nur durch das Material zu gehen, ohne dass jemand sagt: ›Hör dir das mal an.‹ Ich wollte völlig unbeeinflusst von anderen Meinungen alles durchhören und auf Temperatur kommen. Außerdem hatte ich ja seit 1996 nicht mehr mit Blur gearbeitet und wollte wieder in die Blur-Welt eintauchen.

Arrangement per Cut & Paste

Graham stimmte zu und gab mir Carte Blanche, um zusammenzuschneiden, was immer ich für richtig hielt. Also habe ich jede Session neu abgespeichert, die Hauptinstrumente in Stereopaaren auf mein 16-Kanal Audient Zen-Pult gelegt und angefangen, alles durchzuhören. Sobald ich wusste, was da war, fing ich an, Sachen in der Pro-Tools-Session herumzuschieben. Einige Songs hatten bereits mehr Form angenommen als andere. Es gab Songs, die mit ein bisschen Gesang anfingen, dann nichts mehr, und erst viel später kam wieder ein bisschen Gesang. Manchmal sang Damon einfach Ideen, die ihm gerade durch den Kopf gingen. Es gab auch ein paar Songs, an denen Damon ein bisschen gearbeitet hatte, nachdem sie aus Hong Kong zurückkamen, beispielsweise Ghost Ship und My Terracotta Heart.

Die hatten etwas mehr Form angenommen, tuckerten aber immer noch so ein bisschen vor sich hin, ohne Intros, Outros usw. Andere Sessions hatten gar keine Vocals und auch überhaupt keine klare Form. Aber ich habe mir alle Ideen angehört und angefangen, ihnen Form zu geben. Als Graham eine Woche später zurückkam, haben wir weitere vier Wochen Seite an Seite an den Sachen gearbeitet. Natürlich haben wir mit den Songs begonnen, die ich zu editieren angefangen hatte und bereits ein bisschen Form angenommen hatten. Dann kamen wir zu Songs, wo er mir Dinge zeigte, die für mich zunächst nicht ersichtlich waren.

Beispielsweise erschienen die Sessions für Thought I Was A Spaceman und There Are Too Many Of Us zunächst wie eine simple Jam über eine Akkordfolge; es gab keine Vocals von Damon, und ich wusste nicht so richtig, wie ich das einordnen soll. Aber irgendwo am Anfang dieser Sessions waren Damons iPad-Garage-Band-Demos, und plötzlich machten diese Sessions schon viel mehr Sinn. Es gab auch einige hübsche kleine Tasten-Parts, beispielsweise elektronische Percussion, die Damon ebenfalls in Garage-Band gemacht hatte.

Graham und ich haben nicht nur die besten Abschnitte herausgesucht und Song-Strukturen erzeugt, sondern auch mit den Arrangements herumgespielt. Beispielsweise im Song New World Towers, der ursprünglich Trellick Towers hieß, nach einem bekannten 1970er-Hochhaus in West London in der Nähe von Damons Wohnung. Graham spielt da eine absteigende Tonfolge auf der Gitarre, und ich wollte, dass sie sich ein bisschen aufbaut, bevor sie dann einsetzt. Also habe ich da ein paar Wiederholungen eingebaut. In diesem Song haben wir auch an Alex’ Bass gearbeitet. Er klang ein bisschen abgehackt, räumlich und dubby, ähnlich wie auf seinem Solo-Material. Ich fand eine andere Stelle in der Session, wo er etwas freier spielt, und fand, dass das besser zu den Gitarrenparts passte, die wir hatten. Solche Sachen eben.

Graham und ich waren wie zwei Kids im Spielzeugladen: ›Lass uns dies mal ausprobieren, lass uns das mal ausprobieren.‹ Ein weiterer Song, der einige interessante Bearbeitungen erforderte, war Lonesome Street. Ich fand, der Song war zu langsam aufgenommen und klang etwas lethargisch. Es war dasselbe Tempo wie Damons iPad-Demo, 101 BPM, und um zu sehen, wie der Song klingen könnte, habe ich alles in zwei- und viertaktige Abschnitte unterteilt und mittels Elastic Audio das Tempo auf ungefähr 110 BPM angehoben. Das waren die Dinge, mit denen wir uns beschäftigten: säubern und arrangieren, bis es weitestgehend veröffentlichungsreif klingt. Als Graham und ich die Songs so weit bearbeitet hatten, wie wir konnten, brachten wir sie ins [Studio] 13, um sie Damon vorzuspielen. Stephen [Sedgwick] war auch anwesend.

Damon meinte: ›Super, fantastisch! Wollt ihr, dass ich die Songs nun fertigstelle, Gesang aufnehme und die Endabmischung mache?‹ Ich antwortete, dass ich mich weiter darum kümmern wollte, aus den Aufnahmen ein weitaus fertigeres Endprodukt zu machen und mit ihm die Vocals aufzunehmen, und Damon stimmte zu. Ich fand auch, dass wir Dave wieder hinzuziehen sollten, um einige neue Schlagzeug-Parts einzuspielen, und Alex für weitere Bass-Tracks, und Graham sollte seine Gitarren-Parts fertigstellen.“

Mehr Overdubs

„Als Nächstes gingen wir ins Assault & Battery Studio 2, wo ich mit Dave ein paar Tage lang neue Drum-Overdubs aufgenommen habe. Alex, Graham und ich haben auch noch letzte Overdubs eingespielt, größtenteils in meinem Studio. Entgegen einiger Berichte, dass das Album aus den Hong-Kong-Sessions entstand, haben wir so ziemlich alles mit frischen Overdubs versehen. Wenn du zu viel mit Cut & Paste arbeitest, klingt es am Ende schon sehr künstlich und zusammengesetzt. Dieses Album ist ganz offensichtlich ein Produkt seiner Zeit in der Art und Weise, wie der Inhalt der Festplatte editiert und manipuliert wurde.

Das mit Tape zu machen, wäre ein Alptraum. Die [heutigen] Möglichkeiten, die ursprünglichen Sessions bis in die letzten Details zu editieren und die besten Teile herauszupicken, waren der Schlüssel. Darin ist Pro Tools fantastisch. Es gab uns die Möglichkeit, einen großen Teil des Vibes zu erhalten, den die Band in Hong Kong verspürte. Aber du brauchst auch Leute, die locker über diese Tracks spielen können, um die Songs zu befreien; und genau das haben sie dann in London getan.“

Produzieren und nicht Scheitern

Sedgwick erinnert sich genau an den Augenblick, als das Projekt in einen neue Phase ging, die da hieß, ein gutes Album zu produzieren und nicht zu scheitern. „Was Graham und Stephen dann Damon und mir vorspielten, klang fantastisch. Es war schon so nahe dran, ein Album zu werden. Aber es gab nur ein paar Guide-Vocals und natürlich auch noch keine richtigen Gesangsaufnahmen. Ich glaube, das war der Punkt, als Damon wusste, dass es ein neues Blur-Album geben würde. Das müsste im Spätherbst 2014 gewesen sein. Danach hat Stephen [Street] mit den Jungs weitere Overdubs aufgenommen, und außerdem hatten wir eine Streicher-Session im Studio 13.

Die Gesangsmelodien waren bereits vorhanden, entweder auf den Guide-Vocals der Hong-Kong-Sessions oder aber in Damons Kopf. Damon musste aber noch die Texte schreiben, was er dann über Weihnachten getan hat. Vor Weihnachten ist er sogar zurück nach Hong Kong geflogen, um sich für die Lyrics inspirieren zu lassen! Er tourte mit einer Band für sein Soloprojekt Everyday Robots in Asien und Australien, und irgendwann kam er auch durch Hong Kong. Dort hatte er 24 Stunden, um wieder in diese Stadt einzutauchen und in dieselbe Stimmung zu kommen, in der er war, als wir dort aufnahmen. So holte er sich Ideen für die Songtexte des Albums.

Er hat nochmal seine Schritte auf jener Reise zurückverfolgt, die ihn vom Hotel ins Studio führte, und hat dort einfach Zeit verbracht, um sich in diese Welt zurückzuversetzen. Als er dann nach England zurückkam, hat er alle Texte geschrieben. Im Januar gingen Stephen und Damon ins Studio 13, um die endgültigen Vocals und hier und da ein paar Overdubs aufzunehmen. Wenn Damon im Studio 13 seine Vocals aufnimmt“, fährt Sedgwick fort, „macht er das am liebsten im Control-Room.

Ich habe das Flea-47-Mikrofon des Studios benutzt, das, wie kaum zu übersehen ist, auf dem Neumann U47 basiert. Es klingt sehr warm und präsent. Als Preamp kam ein Audio Maintenance AML ez1073 zum Einsatz; dahinter war ein Distressor, nur für ein kleines Bisschen Kompression, um für einen guten Pegel zu sorgen, bevor es ins Pro Tools ging.

Auf ein paar der Songs hat er für eine lautere Gesangsperformance ein Neumann KMS 105 Handheld-Mikrofon benutzt. Graham hat auch ein paar Gesangsparts und Backing-Vocals eingesungen; für ihn habe ich ein Neumann U77 verwendet, das auch wieder in einen Audio Maintenance 1073 ging. Er hat außerdem noch ein paar weitere Gitarren-Overdubs eingespielt, wofür er den studioeigenen Vox AC30 [Gitarrenverstärker] verwendete, den ich mit einem Coles 4038 sowie einem [Shure] SM57 oder einem [Beyerdynamic] M88 abgenommen habe. Für seine Akustikgitarre habe ich wieder das U77 verwendet.“

Jetzt nur noch Abmischen …

Nun, da das Projekt endgültig zum Album geworden war, musste es „nur noch“ abgemischt werden. Für diese Aufgabe, die zweieinhalb Wochen in Anspruch nehmen sollte, trafen sich die beiden Stephens im Januar 2015 im Studio 13. „Als ich im Januar für die letzten Aufnahmen in Damons Studio zurückkehrte, hatte Stephen schon mit den Spuren herumgespielt, um sie so klingen zu lassen wie im The Bunker Studio. Weil er auf seiner VR72 mehr Kanäle hat, konnte er die Sachen weiter auffächern, die Gitarren beispielsweise über sechs oder acht Kanäle. Au- ßerdem hat er, anstatt meine Outboard-Bearbeitungen im The Bunker nachzubauen, die exzellenten Geräte im Studio 13 verwendet.

Unser Ausgangspunkt war also, den Sound hinzubekommen wie im The Bunker und darauf weiter aufzubauen. Natürlich haben wir jedes Mal, wenn wir Overdubs aufgenommen hatten, unsere Rough-Mixes im Computer und auf dem Pult abgespeichert, sodass wir uns Stück für Stück dem finalen Mix angenähert haben. Als wir am Ende die Vocals im Studio 13 aufnahmen, waren wir schon ziemlich nahe am Endresultat. Für jeden Song hatten wir zumindest den Bunker-Mix und den letzten Studio-13-Rough-Mix, die wir uns immer mal wieder anhörten, um zu überprüfen, dass wir nicht vom Weg abgekommen waren.

Manchmal stellst du beim Rough-Mix instinktiv Pegelverhältnisse ein, die das Wesen des Songs genau treffen.“ Interessanterweise haben die beiden Stephens nicht nur den Vornamen gemeinsam, sondern arbeiten auch ganz ähnlich, obwohl sie eine ganze Altersgeneration auseinander liegen. Beide bevorzugen ein Analogpult und eine hybride Arbeitsweise mit Plug-ins und Outboard-Geräten. Street kommentiert: „Stephen ist sehr gründlich, und als Damon uns Seite an Seite arbeiten sah, witzelte er, er könne nun sehen, warum er sich Stephen ausgesucht hat, um mit ihm zu arbeiten, nachdem er einen Großteil der 90er mit mir verbracht hatte!

Auch für mich war es ein Vergnügen, mit Stephen zu arbeiten, nachdem ich in den letzten Jahren viel alleine gearbeitet hatte. Es war wie damals in den 90ern mit Cenzo Townshend und John Smith. Stephen hat den Mix am Morgen begonnen, und ein paar Stunden später bin ich dann mit frischen Ohren dazugestoßen, habe ein paar Kommentare eingebracht und einige Veränderungen vorgenommen. Zusammen haben wir dann noch ein bisschen daran gefeilt und den Sound von Bass oder Drums feinjustiert, solche Sachen eben.“

Sedgwick: „Ich habe immer an Analogpulten gearbeitet, und das Neve VR ist einfach ein großartiges Pult zum Mischen. Ich mag das haptische Erlebnis, nach Fadern greifen zu können und nicht auf einen Bildschirm starren zu müssen, während ich beurteile, was aus den Speakern kommt. In – zwischen mag ich es aber, das Beste beider Welten kombinieren zu können. Einige Plugins klingen nun richtig gut, und der Computer ist klasse, wenn es um Recalls geht, besonders beim Schreiben und Aufnehmen; du öffnest die Session, und alle Plug-ins und Levels sind sofort da.

Bei diesem Projekt klang das, was Stephen und Graham im The Bunker zusammengesetzt haben bereits ziemlich fertig gemischt. Insofern machte es Sinn, dort wiederanzuknüpfen. Deshalb blieb bei den endgültigen Mixes einiges mehr in Pro-Tools-Submixes zusammengefasst, als ich das für gewöhnlich tue. Stephen spielt die Sachen in Stereopaaren aus, auf denen er dann Outboard verwendet, während er die Einzelspuren in Pro Tools mit Plug-ins bearbeitet. Also habe ich diese Arbeitsweise weitergeführt, was das Mischen auch sehr beschleunigt hat. Einige Mixes haben nur vier Stunden gedauert, und in einigen Fällen haben wir zwei Mixes an einem Tag hinbekommen.“

Plug-in Galore

Street: „Als Stephen die Sessions öffnete, hat er zunächst alle Plug-ins behalten, die ich im The Bunker verwendet hatte, und wenn das [Studio] 13 sie nicht hatte, hat er sie gekauft, damit wir die Mixes auf dem aufbauen konnten, was ich bereits entwickelt hatte. Ich bin ein großer Fan der Universal-Audio-Plugins. Ich finde sie wirklich gut und habe da einiges investiert. Ich verwende ihre Lexicon-224- und EMT-Reverbs, und vor Kurzem habe ich das Ocean-Way-Plug-in gekauft, das ich dann auch auf den Drums von Go Out eingesetzt habe. Ich habe es dann als Referenzpunkt ausgespielt. Ich mag auch den Waves Kramer PIE Compressor sehr gerne, den ich oft für Gesang einsetze.

Ich bin auch ein großer Fan der SoundToys-Sachen; ihr EchoBoy ist meine erste Wahl, wenn ich ein Delay brauche. Der Sansamp ist nett, wenn du Sachen ein bisschen anzerren möchtest. Manchmal benutzt man Plugins aus reiner Bequemlichkeit: Du klickst es an, und es ist da. Aber wenn es um die Schlüsselelemente des Tracks geht, etwa die Drums, die Kompression der Bassline, die Vocals, stelle ich fest, dass ich die immer noch lieber als Subgruppen mit Outboard bearbeite. Steve geht es genauso. Und genauso haben wir’s dann im Studio 13 gemacht.“ Bemerkenswert an The Magic Whip ist, wie gekonnt die Band und die beiden Stephens mit atmosphärischen Sounds, Reverbs, Delays und Distortion arbeiten, nicht zuletzt auf den Vocals, um das Urbane der Musik sowie das Gefühl von Entfremdung und Verlorenheit der Lyrics zu transportieren.

Sedgwick erklärt: „Die seltsamen Synth-Sounds sind größtenteils aus Hong Kong und wurden von Stephen aufgenommen. Aber die meisten Effekte wie Reverb und Delay haben wir später erst hinzugefügt. Die Straßengeräusche stammen aus Hong Kong und London; die meisten davon hat Damon mit seinem iPad aufgenommen, das er immer dabei hat. Tatsächlich ist der Sound, mit dem das Album anfängt, ein Feuerwerkskörper namens ›Magic Whip‹, den Damon angezündet und mit seinem iPad aufgenommen hat. Ich glaube, das war in Island.“

Street: „Die Distortion- und Hall- Effekte auf den Lead-Vocals des Songs There Are Too Many Of Us sind inspiriert von Damons iPad-Demo. Er hat den Song in GarageBand begonnen, indem er direkt ins iPad-Mikro gesungen und Tonnen von Verzerrung darauf gegeben hat. Dadurch klingt seine Stimme sehr fremd und abgehoben. Er wollte unbedingt, dass sein finaler Vocal ähnlich klingt. Damon hat eine wunderbare Stimme, die toll klingt, wenn man sie einfach naturbelassen aufnimmt, aber auf diesem Album wollten wir seine Stimme in bestimmten Räumen platzieren, ihr eine Atmosphäre geben, die Unterwegssein und Losgelöstheit vermittelt.“

Sedgwick: „Einige der Effekte haben wir mit Plug-ins gemacht, andere mit dem Outboard, das ich auf den StereoSubgruppen hatte. Unser generelles Outboard-Mix-Setup hat sich von Song zu Song nicht viel verändert. Für den Hall auf der Stimme haben wir größtenteils den EMT-240-Plate-Reverb vom Studio 13 verwendet. Bei der Endabmischung habe ich für die Vocals auch wieder den Distressor verwendet. Auf der Gitarren-Subgruppe waren zwei Chandler Germanium-Kompressoren und auf manchen Gitarren auch ein Federhallgerät namens ›Welter Rev 5‹, das ich auch für manche Synths eingesetzt habe. Auf den Drums hatte ich 0den Retro Instruments 2A3 − das ist deren Pultec-Style EQ − und außerdem den API 2500 sowie auf manchen Songs den Chandler Zener Limiter. Den Bass habe ich mit einem Urei Blackface 1176 bearbeitet; auf manchen Songs habe ich ihm mit dem Tube-Tech-EQ mehr Gewicht verliehen.“

The Magic Whip wurde im April 2015 veröffentlicht und ging sofort auf Platz 1 der UK-Charts. In vielen Ländern, darunter Australien und die USA, war The Magic Whip das am höchsten platzierte Blur-Album aller Zeiten. Auch die Kritiker und Fans waren positiv überrascht bis begeistert. Sollten Blur tatsächlich vorgehabt haben, kein neues Album aufzunehmen, dann sind sie auf wirklich grandiose Weise gescheitert.

 

DIE PRODUZENTEN

Stephen Street

The Magic Whip_Blur_03
(Bild: Tanyel Vahdettin)

Stephen Street gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Produzenten Großbritanniens. Zu Ruhm kam er in den 80ern und 90ern durch seine Arbeit mit ur-britischen Künstlern wie The Smiths, Blur, Sleeper und Morrissey. In den letzten Jahren arbeitete er mit den Kaiser Chiefs, Babyshambles, The Courteener u.v.a. Viele Jahre hat Street in den Olympic Studios in London gearbeitet, doch vor fünf Jahren, als das Olympic geschlossen wurde, baute er sein eigenes Studio, The Bunker. www.stephenstreet.net

 

Stephen Sedgwick

The Magic Whip_Blur_04
(Bild: Tanyel Vahdettin)

Der Mixer und Engineer Stephen Sedgwick begann seine Karriere in den Pierce Rooms in London, wo er sich unter Berühmtheiten wie Steve Fitzmaurice und Tom Elmhirst allmählich hocharbeitete. Ende 2004 kam der Blur-Sänger und -Haupt-Songwriter in The Pierce Rooms, um am zweiten Gorillaz-Album, Demon Days, zu arbeiten. Danach blieben die beiden in Kontakt, und ab 2006 begann Sedgwick in Albarns eigenem Studio 13 in West London zu arbeiten. Seitdem hat er die meisten von Albarns Projekten aufgenommen und gemischt.

 

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